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Maengelexemplar

Titel: Maengelexemplar
Autoren: Sarah Kuttner
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Sprung, während ich wie eine ältere Dame zitternd mit Mamas Zettel in der Hand jeden verdammten Grabstein auf dem Friedhof überprüfe.
    Und dann finde ich es. Ein schlichter, großer Grabstein. Gold auf schwarzem Marmor Opas Name, Geburts- und Sterbedatum, und dann geht es los. Wenigstens bin ich nicht überrascht.
    Das böse Tier hat sein
Go
, es ist Stage Time, die Vorband ist endlich weg, der Main Act darf zeigen, was er kann.
    Und er kann. Ich breche sofort und heftig in Tränen aus. Ich weine laut und mit viel Rotze. Ich murmel verschiedene peinliche Floskeln, weil ich mit Opa kommunizieren will, unterbreche mich aber immer wieder, weil ich nicht weiß, wie das geht und ob ich überhaupt an so was glaube. Spricht man mit Toten, oder denkt man nur, was man sagen will, und hofft, dass es schon an der richtigen Adresse ankommt?
    Ich bin frustriert und verunsichert, weil ich plötzlich nicht mehr von meinen eigenen Intentionen und Gefühlen überzeugt bin. Weine ich aus echter Trauer oder aus Selbstmitleid? Aus Sehnsucht? Oder weil die Leute das im Fernsehen auch immer so machen? Will ich wirklich kommunizieren? Oder will ich das nur, weil es doch, wie
Coldplay,
so gut passen würde und so erwartet wird? Und wenn ja, wer erwartet denn bitteschön was? Bin doch nur ich hier.
    Es ist zum Kotzen.
    Während all dieser Überlegungen heule ich leidenschaftlich weiter. Denke Gedanken, die ich mir selbst nicht glaube, und fühle Gefühle, die mich nicht hundertprozentig überzeugen.

Mein nächster Termin bei Frau Görlich, eine Woche nach dem ersten, beginnt sehr entspannt. Frau Görlich stellt mir frei, sie ab jetzt Anette zu nennen, so heißt sie nämlich mit Vornamen. Im Gegenzug würde sie mich dann Karo nennen, was ganz gut passt, weil das ja mein Vorname ist. »Natürlich nur, wenn du dich damit wohlfühlst«, sagt sie mit gewohnt ruhiger Ausstrahlung und nie blinzelnden blauen Augen. Ich weiß nicht, ob ich mich damit wohlfühle, aber um Zeit zu sparen, sage ich: »O.k., Anette!« Ich betone dabei ihren Namen ganz besonders und lache ganz gezwungen zwanglos. Ich möchte entspannt-witzig rüberkommen, aber Anette lächelt nur wieder dieses Lächeln. Ich nehme mir vor, weniger rumzugagen und noch viel ehrlicher zu sein. Darum geht es hier doch schließlich. Sich nackig machen.
    Als Anette fragt, wie es mir in der letzten Woche ergangen ist, erzähle ich überaus eifrig, wie traurig ich plötzlich die ganze Zeit über bin und welche Erkenntnisse ich daraus gewonnen habe. Ich bin stolz. Anette findet den Weisheitszahn-Vergleich sehr gut, wundert sich nicht über die Traurigkeit und meint, dass wir mich eben an einem empfindlichen Punkt getroffen haben, den wir vorsichtig weiterverfolgen wollen. »Wenn du dir vorstellen kannst, diesen Weg mit mir zu versuchen«, sagt sie.
    Ich wurde also angenommen! Anette glaubt, dass mir ein wenig Therapie ganz gut tun und helfen könnte. Wären wir bei einem richtigen Casting, würde ich jetzt meine Mama anrufen, und sie würde ganz laut durchs Telefon kreischen, und dann würden wir beide jubeln und auf und ab hüpfen. Aber ich hüpfe nicht auf und ab, sondern kläre mit Anette erst einmal ein paar administrative Angelegenheiten. Wir bereiten diverse Unterlagen für die Krankenkasse vor, bei der wir eine Kurzzeittherapie von fünfundzwanzig Stunden beantragen, und einigen uns darauf, dass ich erst mal nur unregelmäßig kommen kann, weil sie zurzeit keinen festen Termin frei hat. Sie erklärt mir, dass alles seine Zeit braucht, vor allem die Beschäftigung mit der Seele. Dass man nicht einfach nur ein wenig schraubt, und dann läuft die alte Karre wieder. »Alte Verhaltensmuster und Ängste sind sehr fest in einem Menschen verankert«, sagt sie. »Schließlich tragen wir sie seit Jahren mit uns rum. Man wird sie nie loswerden können, aber man lernt, viel besser mit ihnen umzugehen.« Jaja, denke ich. Wir kriegen das schon hin, kann so schwer ja nun auch nicht sein, schließlich bin ich doch total bereit und aufgeklärt und offen.
     
    Die nächsten Wochen verlaufen unspektakulär. Ich habe nach wie vor nicht viel zu tun, außer in der Kneipe die unbeliebten Schichten zu übernehmen und mich leidenschaftlich über meinen Freund zu ärgern. Ich bin weiterhin oft traurig, aber nicht mehr ganz so beunruhigt, schließlich weiß ich jetzt, weshalb: Ich bin ein entzündeter Zahn. Und ich bekomme nun professionelle Hilfe.
    Anette und ich reden in den nächsten Therapiestunden viel,
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