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Maengelexemplar

Titel: Maengelexemplar
Autoren: Sarah Kuttner
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tatsächlich gern Pizza mit Ananas essen oder R’n’B mögen oder Drogen nehmen. Aber dass sie Freunden nicht zuhören können oder wollen, unbeirrbar pessimistisch sind und nicht bereit, zu geben, was sie nehmen, akzeptiere ich nicht. Das ist einfach
falsch.
Nicht ein alternatives Lebensmodell oder ein anderer Geschmack, sondern schlicht und einfach eine Unverschämtheit. Etwas, wofür man sofort den gummibehandschuhten Finger der Karmapolizei im Arsch verdient. Nur, dass ich mir bis heute nicht sicher bin, ob es die Karmapolizei wirklich gibt. Vermutlich fehlen dafür einfach die öffentlichen Mittel.
     
    Philipp ist verreist. Er ist bei seinen Eltern auf dem Dorf und kommt heute zurück. Philipp ist immer besonders schrecklich, wenn er in seiner alten Heimat war. Dort ist er nämlich was Besonderes. Der Typ, der es geschafft hat, der in der Großstadt wohnt, was mit Medien macht, auf Partys mit C-Promis irgendwas mit Elektrolyten drin trinkt und ein Künstler ist. Ich frage mich, ob die ganzen alten Freunde wissen, dass Philipp nur mittelmäßige Graffiti an öffentliche Verkehrsmittel sprüht. Ich fürchte, sie wissen es und pullern sich trotzdem oder gerade deswegen fast ein vor Respekt. Weil das irgendwie so krass ist wie New York in den Achtzigern. Als ob sie wüssten, wie New York in den Achtzigern war.
    Philipp bekommt in seiner alten Heimat das, was er hier auch gerne hätte: Anerkennung und Respekt. Kein Wunder, von mir gibt’s das nämlich nicht. Dementsprechend glasige Augen hat Philipp dann immer bei seiner Rückkehr.
    Heute ist wieder so ein Tag. Ich hole Philipp vom Zug ab, und ich freue mich tatsächlich auf ihn. So fünf philippfreie Tage machen immer, dass mein Herz glaubt, ihn doch irgendwie zu mögen. Dass wir uns nur mehr Mühe geben müssen miteinander. Dass zwei Jahre doch keine Lüge sein können und dass ich mich vielleicht auch einfach ein bisschen am Riemen reißen muss. Akzeptieren, dass Philipp anders ist. Nicht schlecht, nur anders.
    Ich fühle mich plötzlich sehr großherzig und schlau. Schließlich weiß ich die Ratschläge meiner Therapeutin umzusetzen und scheue auch nicht davor, mich selbst zu maßregeln. Diese neue Karo ist für mein Hirn natürlich erst einmal verwirrend. Mein zentrales Nervensystem gerät bei der Weiterleitung der notwendigen Information kurz ein wenig ins Stocken, tut dann aber, als ob nichts wäre, und leitet die Lüge weiter an meine Augen, die sofort voller Amore sind.
     
    Die Einfahrt von Philipps Zug wird angekündigt, und ich bekomme eine SMS : » BI N IN 5 MINUTEN DA , FREU MICH AUF DICH , SÜSSE !« Kuck mal an, Philipp spielt auch Vorfreude.
Alte Ratte!,
schimpfe ich mich. Vielleicht freut er sich wirklich auf dich. Ich schäme mich ein bisschen, und pünktlich mit Philipps Zug fahren auch wieder liebevolle Gefühle in den Bahnhof meines Herzens ein.
    Viele Menschen steigen aus. Aber wo bleibt Philipp? Es ist wie mit den Koffern am Flughafen: Meiner kommt immer zuletzt. Dabei muss man nur früh genug von seinem Sitzplatz aufstehen, und, zack, kann man als einer der Ersten verstrahlt auf den Bahnsteig plumpsen. Stattdessen lässt sich Philipp Zeit, egal ob sein Mädchen zwischen tausend Reisenden auf dem Bahnsteig wartet. Ich versteh das nicht. Ein bisschen Mitdenken finde ich nicht zu viel verlangt.
    Endlich entdecke ich meinen Freund. Er sieht angepisst aus. Und plötzlich möchte ich am liebsten schnell wieder weg. Egal wohin. Notfalls mit dem Teenager neben mir. Komm, kleiner Mann, lass uns zu dir nach Hause gehen. Wir können Bushido hören oder ein brutales Videospiel spielen.
    Philipp hat schon wieder irgendetwas mit Leidenschaft gehasst. Seine Miene verdüstert sich noch mehr, als er mich entdeckt, vermutlich, weil er glaubt, in mir jemanden gefunden zu haben, dem er den Hass mitteilen kann. Aber ich möchte nicht diejenige sein. Ich will in den Arm genommen und lieb gehabt werden. Nichts, was einem auf einer Zugfahrt passieren kann, ist schlimm genug für dieses
Gesicht
!
    »Mann, es ist zum Kotzen! Ich musste die halbe Fahrt neben einem Typen sitzen, der Mundgeruch hatte!« Krass. »Außerdem hat der Wichser die ganze Zeit die BILD gelesen. Weiß doch jeder, dass das ein Nazi-Verein ist. Neben so was will ich nicht sitzen. Aber war sonst kein Platz frei. Typisch Deutsche Bahn, blöde Kapitalistenschweine!« There we go. Philipp ist wieder da. Aber ich bin sehr verständnisvoll heute. »Liebster, zumindest musstest du nur die
halbe
Fahrt
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