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Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency
Autoren: Antonia Rothe-Liermann
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S chöne Beine.« Der Satz spukt mir seit Stunden im Kopf herum. »Schöne Beine« – ist das die Begrüßung, die man sich von einem Oberarzt erhofft? Am ersten Tag in einem neuen Job, an dem die Kehle ohnehin lebensbedrohlich zugeschnürt ist von banger Erwartung?!
    Bis zu diesem Moment war alles nach Plan gelaufen – relativ. Wir drei Mädchen, angehende Medizinerinnen und seit gestern Wohngemeinschaftspartner, hatten abends enthusiastisch die Gläser auf die Zukunft der Ärztezunft erhoben und tapfer unser Fracksausen vor dem neuen Job mit Prosecco heruntergestürzt. Und heute Morgen standen wir bleich, aber entschlossen vor unserer neuen Wirkungsstätte – sprachlos vor Ehrfurcht und Respekt vor der eigenen Courage. Eine klapperdürre Oberschwester und eine blond gelockte Ärztin gaben unser Empfangskomitee – und ehe wir es uns versahen, waren wir eingewiesen, aufgeteilt und mit neuen Ausweisen und einer ersten Testaufgabe versehen. Was immer in dieser halben Stunde gesagt, gezeigt und angeordnet wurde … ich habe keine Ahnung. Mein Kopf war noch mit grundlegenderen Dingen beschäftigt als der Frage, wo die Kanülen liegen. Ich wurde überspült von einer Panikwelle. Werden sie mich akzeptieren – die Patienten, das Pflegepersonal, die Ärzte? Bin ich wirklich so gut vorbereitet, wie meine Noten es vortäuschen? Wann werde ich meinen ersten Fehler machen und wie schlimm wird er sein? Dass Ärzte Fehler machen, wurde an der Uni so oft betont, dass man fast ein eigenesSeminar daraus hätte machen können. Es wird passieren. Aber bitte, bitte: Nicht am ersten Tag! Warum wirken meine Leidensgenossinnen Isa und Jenny so gelassen?! Haben die gar keine Angst? Und ganz plötzlich war die Einführung vorbei und ich auf dem Weg zur ersten Aufgabe. Allein.
    Und dann das. Im Aufzug hatte die optimistische Lena in mir gerade die Oberhand gewonnen. Meine Motivation kam (nicht ganz anständig) von einer kleinen Schwesternschülerin, die in der Halle von einem Versagensangst-Heulkrampf übermannt wurde. So bist du immerhin nicht, Lena, dachte ich charakterlos und fasste umgehend wieder Mut. Voll neuer Tatkraft betrat ich den Aufzug und überprüfte zum vierzehnten Mal mein Equipment: Ausweis, Block, Stift … Stift? Heute Morgen hatte ich doch extra den Examens-Glückskuli eingepackt. Hatte mein treuloser Kumpan mich schon vor der ersten Notiz verlassen, um mein sofortiges Versagen zu prophezeien? Unfassbar, wie abhängig-abergläubisch ich bin. Glückskuli – gute, wichtige Notizen. Kein Glückskuli – schlechter Tag, an dem ich eine ärztehassende selbstgefällige Stationsschwester um die Grundausstattung an Schreibmaterial bitten muss. Kein normaler Mensch kann die Erleichterung nachvollziehen, die ich verspürte, als ich meinen Glücksbringer-Stift auf dem Aufzugboden erspähte. Jeder, der meine Begabung für peinliche Situationen kennt, kann sich dagegen sofort denken, dass sich genau in dem Moment, in dem ich mich nach dem Stift bücke, hinter mir die Aufzugtür öffnet. Jemand sagt »schöne Beine«.
    Ich fuhr herum – und musterte mit hochrotem Kopf den Mann, der hinter mir den Aufzug betreten hatte. Groß, attraktiv, strahlende Augen, ein zauberhaftes Lächeln. Und dann: »Dr. Tobias Thalheim, Oberarzt«. Das Schild an seinem Kittel erwürgte alle Wohlgedanken und Romantikfantasien, die beim Anblick des attraktiven Mitfahrers in mir aufgeblitzt waren. (Wie haben Sie sich kennengelernt? Oh, in einem Aufzug.) Stattdessen fieses Schamgefühl angesichts eines neuen Moments höchster Peinlichkeit. Und das Einzige, was ich dumme Nuss herausgebrachthabe, war »Danke schön«. Das war also die erste Begegnung der angehenden Assistenzärztin mit dem gefürchteten Oberarzt. Beim nächsten Halt stürzte ich aus dem Aufzug, noch bevor sich die Türen richtig geöffnet hatten.
    Â»Schöne Beine« tönt es seitdem in meinem Kopf. Anfangs klang die Bemerkung noch wie: »Sie sind die Sonne meines Tages – was immer Sie hier falsch machen werden, werde ich wohlwollend übersehen, denn Sie sind die Angelina Jolie meines Krankenhauses, auf deren Erscheinen ich jahrelang gewartet habe.« Inzwischen hat sich der Satz in meinem Kopf verwandelt. Jetzt bedeutet er: »Na WENIGSTENS haben Sie schöne Beine, wahrscheinlich
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