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Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten
Autoren: S Booth
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    Freitag
     
     
    S obald er die Tür öffnete, konnte er das Schreien hören. Es zerriss die feuchte Luft und verfing sich in den Eiben, ehe es von den Grabsteinen als Echo zurückgeworfen wurde und an den Mauern erstarb. Es hörte sich an wie ein Tier, das unter Schmerzen verendete. Aber dieser Laut war menschlich.
    Mit jedem Atemzug schien Derek Alton dieses Geräusch in seine Lungen zu saugen, bis aus seinem tiefsten Innern ein Antwortschrei nach oben stieg. Das asthmatische Keuchen seiner entzündeten Atemwege war so schrill, dass seine Ohren zunächst nicht lokalisieren konnten, woher das Geräusch kam, sondern es zunächst als einen Laut identifizierten, welcher der ihn umgebenden Luft zu entströmen schien. Doch der Schmerz im oberen Teil seines Brustkorbs sagte ihm, woher das Geräusch kam.
    Und Alton wusste auch, woher das Schreien kam.
    Mit zitternden Fingern klopfte er den Staub von seinem Ärmel. Sein Kragen klebte an seinem vor Anstrengung schweißnassen Hals, und ein paar Haarsträhnen waren ihm in die Stirn gefallen, wo sie wie ein Kranz aus Stacheldraht auf seiner Haut lagen. Alton rieb über einen frischen Kratzer an seinen Fingerknöcheln, verschmierte aber nur Blut auf seinem Handrücken. Auch im Mund hatte er einen Geschmack nach Staub – nach altem Staub, dem Schutt vieler Jahre, den ein Akt willkürlicher Gewalt heraus an die Luft befördert hatte.
    Der Schrei erinnerte Alton an den Todesschrei einer Ratte, den er einmal gehört hatte. Ein Terrier hatte sie aus ihrem Nest
in einer Scheune vor den Spaten eines Bauern gescheucht, der ihr damit das Rückgrat gebrochen hatte. Mit letzter Kraft hatte die sterbende Ratte laut gequiekt, noch ein wenig mit den Vorderbeinen gezappelt und die bleichen Krallen in die trockene Erde geschlagen.
    Alton lauschte, ob er noch weitere Geräusche hörte. Zuerst waren nur das Raunen des Windes in den Eiben und das Tropfen des Regenwassers im Efeu an den Kirchenmauern zu hören. Doch allmählich begann er, dahinter einen weiteren Laut zu unterscheiden – ein rhythmisches Klopfen, das in einem Raum widerhallte, der weit hinter den ersten Häusern auf der Straße nach Withens lag. Eine Art rituelles Trommeln, das sich, immer schneller werdend, überschlug und dabei mehrfache Klangschichten erzeugte. Alton fröstelte, als er die unterschwellige Drohung darin erkannte, die von Tod und Verderben kündete.
    Dann war irgendwo im Dorf plötzlich Gelächter zu hören, gefolgt vom Knallen einer Tür. Eine Frauenstimme rief etwas, das Alton nicht verstehen konnte. Es war nur ein Satz, ungefähr sechs Wörter, und dann war die Stimme wieder weg. In der Ferne lockte ein Mutterschaf seine Lämmer an den Hängen des Withens Moor, dort, wo die Freilandherden noch immer zwischen Heidekraut und Torfmoor auf ihrem angestammten Territorium weideten. Alton hatte das Withens Moor gesehen. Auch Black Hill und Hey Moss. Und er wusste, dass die Moore am Sterben waren.
    Den ganzen Tag über hatte Derek Alton an nichts anderes als an den Tod gedacht. Mit einem Ruck war er im Morgengrauen erwacht, voller Angst, er könnte Caroline mit seinen Albträumen gestört haben. Aber als er die Augen aufschlug und auf den schwachen Lichtschein starrte, der durch die Vorhänge fiel, erkannte er, dass sein Geist wie ein Pendel hin und her geschwungen war zwischen den Dualitäten Dunkelheit und Licht, Winter und Frühling, Tod und Erneuerung. Vielleicht
hatte er an das nahende Ende des Winters und die ersten Vorboten des Frühjahrs gedacht. Aber er war sicher, vor allem an den Tod gedacht zu haben.
    Alton hörte Schritte, die durch den Mittelgang der Kirche näher kamen. Es gab keine Teppiche in St. Asaph, und der Besucher trug schwere Arbeitsschuhe, die laut über die Steinplatten auf dem Boden polterten.
    Er drehte sich zum Hauptschiff um, blinzelte und versuchte, die Gestalt auszumachen, die langsam aus dem Licht trat und direkt neben ihm stehen blieb. Der Vorraum der Kirche schien zu schmal für beide, als sie dicht nebeneinander standen.
    Neil Granger trug eine schwarze Lederjacke, die Alton für eine Motorradkluft hielt, obwohl er wusste, dass Neil kein Motorrad, sondern nur einen alten VW-Käfer besaß. Und den Wagen hatte Neil auch nur, um damit in die Chemischen Werke Lancashire in Glossop und wieder zurück zu fahren.
    »Du musst nicht bleiben, Neil«, sagte Alton. »Du kannst heute Abend auch nicht mehr viel ausrichten.«
    In schwarzen Schlieren rann Neil der Schweiß von den Schläfen und
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