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Maengelexemplar

Titel: Maengelexemplar
Autoren: Sarah Kuttner
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Puste lehne ich mich zurück.
    Ein kleines Potpourri an Stolpersteinen auf dem Entwicklungsweg eines gesunden jungen Menschen. Ich bin nicht sicher, ob ich damit überzeugen kann, lebe ich doch schon seit diversen Jahren mit dieser Vita. Es geht mir gut. Ich bin durch damit. Ist ja alles schon so lange her. Ich nehme an, dass die Der-
böse
-Onkel-Karte in dieser Aufzählung Trumpf ist, allerdings habe ich auch mit diesem Teil meines Lebens schon vor Jahren meinen Frieden geschlossen. Meine Sexualität scheint trotz allem gesund und problemlos, zu diesem hässlichen Teil meiner Familie hatte ich, wenn auch etwas spät, den Kontakt gänzlich abgebrochen. Etwas unsicher blicke ich noch einmal auf meinen Notizzettel, um sicherzugehen, dass ich nichts vergessen habe, und erwarte die erste professionelle Psychologen-Resonanz meines Lebens auf selbiges. Ich bin mit meiner Performance zufrieden und aufgeregt. Habe ich genug Mist im Rucksack, um weitere Audienzen gewährt zu bekommen? Reicht die Tatsache, dass ich eigentlich nur gerne weniger anstrengend sein möchte, aus, um eine Krankenkasse zu veranlassen, Frau Görlich hundert Euro pro Stunde zu zahlen? Oder habe ich Luxusprobleme? Schließlich bin ich nicht der einzige Mensch auf der Welt mit geschiedenen Eltern, anstrengenden Vätern und einem fragwürdigen Start in die Sexualität. Oder sind all die anderen auch in Therapie?
    Frau Görlich sagt erst mal nichts.
     
    Dann: »Atmen Sie mal richtig durch!«
    Merkwürdig. Das mit dem Atmen scheint mir eigentlich eine der wenigen Sachen zu sein, die ich nun wirklich ganz gut allein beherrsche. Aber ich will folgsam und weniger aufmüpfig sein, also atme ich tief durch.
    »Und jetzt atmen Sie mal in den Bauch!«
    Gern, wenn mich das weiterbringt. Allerdings bin ich nicht sicher, was »in den Bauch atmen« bedeutet, ich habe im Moment auch eigentlich keinen Nerv für Atemübungen, ich will eine Diagnose. Ich wölbe den Bauch beim In-die-Lunge-Atmen einfach enorm weit aus meinem Körper heraus. Das kann ich gut, wie gesagt: Ich esse gern. Wenn es danach ginge, könnte ich auch überzeugend in den Hintern atmen, aber das wird nicht von mir verlangt.
    Und dann sagt Frau Görlich endlich etwas Richtiges. Etwas überraschend Schlichtes. »Sieht so aus, als wären Sie zu oft alleingelassen worden.«
    Ich habe grade noch genug Zeit, ein wenig enttäuscht zu sein über die Kürze dieser Diagnose, und dann fange ich an, zu weinen. Als ob in meinem Inneren irgendetwas aufgedreht wird, fließt es überraschend aus mir heraus. Ich schluchze los wie ein Kind. Alles in mir ist plötzlich klein und traurig. Eine nahezu beschämend große Woge von Weltschmerz rüttelt mich durch. Ich fühle mich wie ein Surfer, der unter einer Welle verbummelt geht. Überall Wasser, überall
viel
.
    Und weil ich keine Zeit verlieren möchte, denke ich schon während der Überschwemmung hektisch darüber nach, wie ich so unter Wasser geraten konnte. Und verblüffenderweise habe ich keinerlei Ahnung. Ich gehe im Geiste alle akuten Probleme durch, um zu sehen, auf welchen Topf der nasse Deckel gehört. Aber keiner scheint zu passen. Die Vergangenheit wiederum ist so weit entfernt, dass ich auch hier keinerlei Übereinstimmungen fühlen kann, und deshalb weine ich einfach erst einmal weiter, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen.
    Meine Versuche der Selbstanalyse sind aber eh vorauseilender Gehorsam, zumindest werden sie augenscheinlich nicht von mir erwartet. Frau Görlich sieht mich nur sehr ruhig an und reicht mir ein Taschentuch, und ich muss kurz lachen, weil es so herrlich klischeehaft ist, diese Kleenexbox in perfekter Reichweite, aber dann werde ich wieder untergetaucht in mein nasses Jetzt.
    Es ist nicht so, dass ich leide. Ich empfinde keine Schmerzen. Weinen ist für mich immer ein großes leuchtendes Fest und eine enorme Erleichterung. Irgendwer hat mir mal erklärt, dass bei zu viel emotionalem Stress im Kopf Stoffe oder Fette oder andere Dinger im Überfluss produziert werden, die mit dem Tränenfluss hinausbefördert werden. Quasi eine Darmspülung für den Kopf. Danach ist man leer und ruhig und bereit für neue Scheiße. Aber auch, wenn ich gerne weine, will ich wissen, warum etwas geschieht, und das ist hier grade nicht der Fall.
    Frau Görlich lässt mich mit weiterhin freundlich ruhigem Gesicht ausbluten.
    Als in meinem inneren Spülkasten endlich wieder die Spül-Stopp-Taste gedrückt wird, rutscht mir ein verschämtes »Huch«
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