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Maengelexemplar

Titel: Maengelexemplar
Autoren: Sarah Kuttner
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bekommen hätte, und ich bemitleide die kleine Karo, die sich mit zwölf Jahren endlich traut, ihrem Onkel mitzuteilen, dass sie ab nun bitte lieber nicht mehr auf den Po geküsst werden möchte.
    Unwillkürlich fange ich an, mich zu schämen. Selbstmitleid ist eine Trauer, die man nicht mit erhobenem Kopf tragen kann. Selbstmitleid ist nicht schick, es schmückt nicht, es ist hässlich und entstellt.
    Und rechtzeitig, bevor ich vor Selbstmitleid darüber, mein Selbstmitleid nicht wie eine Krone tragen zu dürfen, wieder anfange, zu heulen, klopft schüchtern die nächste Erkenntnis an: Vielleicht bin ich nur wie ein oller Weisheitszahn. Ich habe die ganze Zeit leise unter einer Schicht Haut vor mich hin geeitert, und jetzt hat jemand die Wunde aufgeschnitten. Das schmerzt und eitert und stinkt erst mal vorübergehend noch stärker, aber nun befasst sich jemand mit dem Problem. Man wird die Wunde säubern und dann langsam ausheilen lassen. Es geht los! Der erste Schritt zur Besserung!
The first cut is the deepest.
Andererseits, was weiß Cat Stevens schon von so was.

Meine neu gewonnene Hoffnung wandle ich in blinden Aktionismus um und mache Hausaufgaben für die Seele, die mir niemand aufgegeben hat.
    Ich möchte das Grab meines Opas besuchen.
    Er war siebenundfünfzig Jahre alt, als er starb. Ich war damals sieben und weder auf seiner Beerdigung noch je an seinem Grab. Ich denke, ich war anfangs zu jung und später zu faul oder zu vergesslich.
    Eigentlich eine schlimme Unverschämtheit, denn mein Opa war eine Wucht.
    Aus Erzählungen weiß ich, dass er früher oft mit meiner Oma und Bekannten Strip-Poker gespielt hat. Vier Erwachsene, die nackig durch den Garten ihres Wochenendhauses gerannt sind! Seinen Kindern hat er oft Mutproben auferlegt und sie mit Geld bestochen. Meine Mama und ihr Bruder wurden genötigt, steile Berge hinunterzurollen oder sehr lange auf einem Bein zu stehen.
    Im Sommer ist Opa, mit mir auf dem Fahrradkindersitz, durch die Wälder zur nächsten Kneipe gefahren und hat mir vom Krieg und der Natur erzählt. In der Schankwirtschaft angekommen, haben wir immer Bockwurst mit Kartoffelsalat gegessen, er bekam ein Herrengedeck, ich Fassbrause. Wir haben zusammen Wildschweine beobachtet und Pilze gesammelt. Vor dem Schlafengehen hat er mich in die dicke Daunen-Bettdecke eingewickelt und erklärt, dass ich nun die Marmelade in einem Eierkuchen bin. Wenn ich die Schnittchen, die Oma mir zum Abendbrot machte, nicht aufessen wollte, hat er sie hinter Omas Rücken für mich gegessen.
    Natürlich gibt es auch andere Perspektiven auf meinen Opa. Meine Mutter lässt durchblicken, dass er als Vater sehr streng und als Ehemann lieblos war, aber das sind anderer Leute schlechte Erinnerungen, ich habe nur großartige. Und genau diese großartigen Erinnerungen machen mir regelmäßig ein schlechtes Gewissen, mich nie vernünftig von ihm verabschiedet zu haben.
     
    Also tue ich es jetzt. Eine Therapie zu machen bedeutet ja schließlich, die Vergangenheit aufzurollen, sich mit alten Geistern zu konfrontieren und was die Leute sonst noch so sagen. Ich möchte all das auch, ich will gut sein, tapfer, das Richtige tun, dahin gehen, wo der Schmerz und die Angst sind. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was genau das bedeutet. Vergangenheitsbewältigung: und bitte!
    Natürlich weiß ich nicht, auf welchem Friedhof mein Opa liegt. Ich lasse es mir von Mama erklären, sie macht eine Zeichnung. Das kann sie gut, ich wurde mit einer Zeichnung der Gebärmutter aufgeklärt.
    Ich fahre zum Friedhof und fühle mich unerwartet wackelig auf den Beinen. Vielleicht weil es ein wenig so ist, als ob ich Opa wiedersehen würde. Mich ihm nach all den Jahren zeigen. Hier, Opa: So sieht die Marmelade aus dem Bettdeckeneierkuchen mit sechsundzwanzig Jahren aus. Auf der anderen Seite beschleicht mich plötzlich die Befürchtung, dass mein Körper vielleicht nur aufgeregt spielt und sich heimlich musikalische Untermalung von
Coldplay
wünscht. Weil es angebracht ist, sich in solchen Momenten mulmig zu fühlen. Ich schäme mich ein bisschen und versuche, vor mir selbst so natürlich wie möglich zu sein.
    Trotz Mamas Zeichnung finde ich das Grab nicht. Von meiner normalen Ungeduld mal abgesehen, merke ich, je länger ich suche, dass etwas in mir hochkriecht, mich überraschen und übermannen will. Das lauernde Tier kann mich aber erst angreifen, wenn ich das Grab gefunden habe. Und so rumort es bedrohlich grummelnd in mir, bereit zum
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