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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire
Autoren: John Irving
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1.
Der Bär namens State o' Maine
    In jenem Sommer, als mein Vater den Bären kaufte, war noch keiner von uns auf der Welt - wir waren noch nicht mal gezeugt: weder Frank, der älteste, noch Franny, die lauteste, noch ich, der nächste, noch die jüngsten von uns, Lilly und Egg. Mein Vater und meine Mutter kannten sich von klein auf und waren praktisch miteinander groß geworden, doch ihre »eheliche Vereinigung«, wie Frank das immer nannte, hatte damals, als Vater den Bären kaufte, noch nicht stattgefunden.
    »Ihre ›eheliche Vereinigung‹, Frank?« triezte ihn Franny gern; Frank war zwar der Älteste, aber mir kam er jünger vor als Franny, und sie behandelte ihn immer wie ein kleines Kind. »Du meinst doch Frank«, sagte Franny, »daß sie noch nicht angefangen hatten mit vögeln.«
    »Sie hatten ihr Verhältnis noch nicht vollzogen«, sagte Lilly einmal; obwohl sie, abgesehen von Egg, jünger war als wir anderen, spielte sich Lilly immer als die große Schwester von allen auf - sehr zum Ärger Frannys.
    »›Vollzogen‹?« sagte Franny. Ich weiß nicht mehr, wie alt Franny damals war, aber Egg war für solche Sprüche bestimmt noch zu jung: »Den Sex haben Vater und Mutter doch erst entdeckt, nachdem der alte Herr diesen Bären gekauft hatte«, sagte Franny. »Der Bär brachte sie auf die Idee - ein richtig ordinärer, geiler Bock, der dauernd Bäume besprang und an sich selber rumfummelte und versuchte, Hunde zu vergewaltigen.«
    »Er hat hin und wieder einen Hund rauh angefaßt«, sagte Frank angewidert. »Er hat nie Hunde vergewaltigt.«
    »Er hat es versucht«, sagte Franny. »Du kennst doch die Geschichte.«
    »Vaters Geschichte«, sagte daraufhin Lilly, die auf etwas andere Art angewidert war als Frank; es war Franny, die Frank anwiderte, doch Lilly fand Vater widerlich.
    Und so liegt es nun an mir, dem mittleren und am wenigsten voreingenommenen von uns Kindern, die Tatsachen ins rechte - oder fast rechte - Licht zu rücken. Wir waren eine Familie, deren Lieblingsgeschichte die Romanze zwischen meiner Mutter und meinem Vater war: wie Vater den Bären kaufte, wie Mutter und Vater sich verliebten und in rascher Folge Frank, Franny und mich zeugten (»Peng, Peng, Peng!« sagt Franny gern), und wie sie dann, nach einer kurzen Verschnaufpause, noch Lilly und Egg (»Blup und Pfft«, sagt Franny) in die Welt setzten. Die Geschichte, die wir als Kinder zu hören bekamen und die wir uns in den Jahren danach immer wieder von neuem erzählten, scheint sich auf die Jahre zu konzentrieren, von denen wir selber nichts wissen konnten und die wir heute nur so sehen können, wie unsere Eltern sie in ihren vielen Versionen schilderten. Ich glaube, ich sehe meine Eltern klarer in diesen früheren Jahren als in den Jahren, an die ich mich tatsächlich erinnern kann, denn natürlich sind die Zeiten, die ich selbst erlebte, dadurch gefärbt, daß es Auf-und-Ab-Zeiten waren, über die ich Auf-und-Ab-Meinungen habe. Wenn ich aber an den berühmten Sommer des Bären und an den Zauber der ersten Liebe meiner Mutter und meines Vaters denke, dann kann ich mir da einen eindeutigeren Standpunkt erlauben.
    Wenn sich Vater beim Erzählen der Geschichte verhaspelte - sei es, daß er einer früheren Version widersprach, sei es, daß er unsere Lieblingsstellen ausließ -, zeterten wir wie wütende Vögel.
    »Entweder lügst du jetzt, oder du hast beim letzten Mal gelogen«, warf Franny (immer die strengste von uns) ihm vor, doch Vater schüttelte nur unschuldig den Kopf.
    »Versteht ihr denn nicht?« fragte er uns dann. »In eurer Vorstellung ist die Geschichte lebendiger als in meiner Erinnerung.«
    »Lauf, hol Mutter«, wies Franny mich dann an und schubste mich von der Couch. Oder Frank hob Lilly von seinem Schoß und flüsterte ihr ins Ohr: »Lauf, hol Mutter.« Und dann mußte unsere Mutter als Zeugin auftreten, weil wir Vater der Fälschung verdächtigten.
    »Oder aber, du läßt all die saftigen Stellen absichtlich weg«, beschuldigte ihn Franny, »nur weil du meinst, Lilly und Egg seien noch zu jung für die ganzen Rumvögeleien.«
    »Es gab keine Rumvögeleien«, schaltete Mutter sich ein. »Es gab nicht die sexuellen Freiheiten und das Durcheinander von heute. Wenn ein Mädchen die Nacht oder das Wochenende mit einem Mann verbrachte, hielten sogar Gleichaltrige sie für ein Flittchen oder was Schlimmeres; danach war sie für uns so gut wie gestorben. ›Die Sorte hält sich an ihresgleichen‹ sagten wir immer, oder:
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