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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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Prolog
     
    Anno Domini 1319
     
    Frage sie, welche Sprache der Mond spricht. Oder warum Gottes Wort Leben erschafft, aber deinem keiner zuhört. Frage sie, ob die Welt wirklich eine Scheibe ist oder vie l leicht nur eine Münze, die jemand zum Spaß in die Luft geworfen hat; frage sie, was geschehen wird, wenn der Kopf oben und die Menschen unten landen. Frage sie dies und all die anderen Dinge, die du wirklich wissen willst.
    Sie werden dir keine Antwort geben. Denn sie wissen es nicht.
    Sie nennen sich erwachsen, dachte das Mädchen Ailis, aber sie wissen nichts. Rein gar nichts.
    Ailis saß mit angezogenen Knien auf einem Findling und beobachtete eine Ameise, die mit einer Last, größer als sie selbst, über das poröse Gestein balancierte. Ein E r wachsener, überlegte sie, hätte das kleine Tier wohl zerdrückt, so wie sie alles zerdrückten, das sie nicht ve r standen.
    Und niemanden, dachte Ailis finster, verstehen sie weniger als mich. Weil sie erst vierzehn war, glaubte sie wirklich daran.
    Hinter ihr erhob sich der Wald wie eine Heerschar von Wächtern, starr und düster und flüsternd im Wind. Wie die Wachtposten am Burgtor verstummten auch die Bä u me, sobald man sich nach ihnen umschaute. Sie bli e ben mit ihren Gedanken unter sich, sie drängten sie niema n dem auf, und s o sollte es, zum Teufel nochmal, jede r mann machen! Ganz besonders Väter, die nichts von dem begriffen, was in den Köpfen ihrer Töchter vorging.
    Ailis’ Vater hatte vor Sonnenaufgang die Tür ihrer Kammer im Weiberhaus der Burg aufgestoßen. Er hatte an ihren Schultern gerüttelt und verlangt, dass sie au f stünde. Gefälligst aufstünde. Als ob ihr das nicht bereits klar gewesen wäre, als sie seine Schri t te im Treppenhaus gehört hatte. Ailis hörte mehr als jeder andere, ihr Gehör war das beste dies – und jenseits des Rheins, daran zwe i felte keiner. Sogar der Graf, der in letzter Zeit wahrlich andere Sorgen hatte, gestand ihr das zu. Ailis fand alle r dings, dass dies eher eine Last denn ein Segen war. Ihr Vater aber, der Leibjäger des Grafen, war stolz auf das Talent seiner Tochter – immerhin ein Gefühl, das er für sie aufbrachte.
    Du tust ihm unrecht, ihm und auch deiner Mutter, hä t te wohl ein Erwachsener g e sagt, wenn Ailis ihm davon erzählt hätte. Aber sie sprach nie darüber, und ganz g e wiss nicht mit jemandem, der älter war als sie; deshalb blieb sie von all diesem Unsinn verschont. Du tust ihm unrecht. Liebe Güte! Wen kümmerte es denn, wenn ihr Unrecht widerfuhr?
    Ihr Vater hatte sie geweckt, damit sie an einer Trei b jagd teilnahm, und das, obwohl er wusste, wie sehr sie die Jagd verabscheute. Noch vor Tagesanbruch war der Tross aufgebrochen, hatte mit der Fähre ans andere Rheinufer übergesetzt und sich dort zu Fuß ins Dickicht geschlagen. Ailis’ Gehör sollte den Männern helfen, die Richtung zu bestimmen, in die ihre Beute floh. Es war erst Ailis’ zweite Jagd, die erste lag mehrere Jahre z u rück. Damals hatte ihr Vater ihren Wunsch respektiert, sie fortan nicht mehr am Töten von Tieren zu beteiligen. Weshalb er dieses Abkommen gerade heute gebrochen hatte, wusste sie nicht. Es hatte keine Erklärungen geg e ben, nur stumme Gesichter im Mondschein und Blicke wie das Schimmern eines gefrorenen Wintersees. Bereits kurz nach dem Aufbruch hatte niemand mehr ein Wort gesprochen. Die fünf Männer an der Seite des Grafen schienen zu wissen, was von ihnen erwartet wurde. Ailis fühlte sich in ihrer Mitte fremd und unwillkommen, und zum ersten Mal seit langem kam sie sich wieder wie ein Kind vor. Sie wollte nicht hier sein, wollte nicht zusehen, wie Tiere getötet, gehäutet und ausgenommen wurden.
    Aber niemand scherte sich um das, was sie wollte. »Spitz die Ohren«, hatte ihr V a ter gesagt. Und das hatte sie getan. Eine Weile lang. Dann war sie fortgelaufen, hinauf auf den Berg, zu diesem Findling, von dem aus sie nun hinab auf den Rhein schaute.
    In der Ferne hörte sie gelegentlich die Jäger durch U n terholz und Buschwerk br e chen, sie vernahm Flüche, einmal sogar den Ruf »Da ist es!«
    Das Ende der Jagd stand kurz bevor, auch ohne Ailis’ Hilfe. Die Aussicht auf die Schläge ihres Vaters änderte nicht das Geringste an ihrer Überzeugung, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte; richtig, weil es allein ihre Entscheidung war. Ihr Vater hatte kein Recht, über sie zu verfügen wie über einen seiner Jagdhunde.
    Überhaupt, warum nahmen an dieser Jagd keine Hu n de
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