Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Waldboden, ungeachtet aller Steine, Wu r zeln und Äste in ihrem Weg. Die Gegenwehr des Mä d chens war ungebrochen, es zog und zerrte an den Seilen, riss den Mund zu verzweife l ten Schreien auf, doch kein Ton drang über seine Lippen, als würde seine Stimme von irgendetwas verschluckt. Ailis bemerkte, dass die Stränge des Netzes mit goldenen Fäden durchwirkt w a ren. Die Steine, die es beschwerten, waren in der gle i chen Farbe mit seltsamen Mustern bemalt – Runen! Aber sie sahen nicht wie andere Schriftzeichen aus, die Ailis bisher gesehen hatte. Feenrunen, dachte sie und wusste selbst nicht recht, wie sie darauf kam. Es schien fast, als sei das Netz nicht von Menschenhänden geknüpft wo r den.
    Entsetzliche Angst packte sie – vor ihrem Vater und vor den anderen Männern. Mit einem Mal waren sie wie Fremde. Wegelagerer, vielleicht Räuber und Mörder. Ailis und das Mädchen waren ihnen vollkommen ausg e liefert.
    Nach und nach traten auch die übrigen Jäger aus dem Wald, zuletzt Graf Wilhelm persönlich. Er betrachtete das strampelnde Bündel am Boden ohne eine Spur von Mi t gefühl.
    »Herr Graf«, flehte Ailis ihn an, »tut doch etwas!«
    Er aber schüttelte nur unmerklich den Kopf, wechselte einen besorgten Blick mit Ailis’ Vater, dann eilte er mit weiten Schritten an die Spitze der schrecklichen Jagdg e sellschaft und ging voraus.
    Ailis schloss bis zum Netz auf und wollte danach gre i fen, doch einer der Männer hielt sie zurück und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Niemand nahm Anstoß da r an, am wenigsten Ailis’ Vater. Er schien den Vorfall nicht einmal bemerkt zu haben.
    Der Schmerz in ihrer Wange war nebensächlich. Es war nicht der Schlag, der ihr die Hoffnung nahm. Vie l mehr zeigte ihr die Gleichgültigkeit all dieser Männer nur zu deutlich, dass das kleine Mädchen verloren war. Was immer sie mit dem Kind anstellen wollten, sie würden es tun. Keiner konnte sie aufhalten, und ganz gewiss nicht Ailis, selbst noch ein Kind. Hilflos stolperte sie hinter den Männern her.
    Bald erkannte sie, wohin ihr Weg sie führen würde: hinauf zum Lurlinberg, einem steilen Felsen hoch über dem Rhein. Dort oben, an seiner äußeren Spitze, befa n den sich die Ruinen einer vorzeitlichen Wehranlage, ka n tige Mauerreste und Gräben im Gestein, zwischen denen Gras und Nesseln wuchsen. Burg Rheinfels, Ailis’ Z u hause, lag nur wenige Bogenschussweiten entfernt, je n seits der Biegung auf der anderen Seite des silbernen Stroms. Einen Atemzug lang überlegte Ailis, ob sie noch einmal um Hilfe rufen sollte, um den Fährmann oder j e manden am gegenüberliegenden Ufer zu alarmi e ren, doch dann fand sie den Gedanken lächerlich. Der Mann, gegen den sie sich wenden wollte, war Graf Wilhelm von Katzenelnbogen, der Onkel ihrer besten Freundin und, soweit sie dies bisher hatte beurteilen können, ein kluger, weitsichtiger Herrscher. Was aber in dieser Nacht g e schah, stellte alles auf den Kopf, was sie bislang geglaubt hatte.
    Die Männer blieben kurz vor der Felskante stehen, hinter der das Schiefergestein des Lurlinberges über hu n dert Schritte tief zum Rhein abfiel. Sie standen rund um ein Loch im Boden, vielleicht ein alter Brunnen, in de s sen Tiefe ungewisse Schwärze herrschte. Das kleine Mädchen kreischte noch einmal auf, ohne dass ein Laut durch das Netz drang, dann zerrten die Jäger es über die Brunnenkante. Polternd verschwand der zarte Körper mitsamt dem Netz im Dunkel, der hellblonde Schopf wurde von der Fin s ternis verschluckt.
    Ailis stand da wie versteinert. Die Männer traten g e schwind auseinander, zwei von ihnen zogen ein mächt i ges Gitter über die Brunnenöffnung. Beim Aufbruch von Burg Rheinfels hatte es auf einem Karren gelegen, der mit ihnen zum anderen Ufer überg e wechselt war. Ailis sah das Gefährt jetzt zwischen den Ruinen stehen. Die beiden Las t pferde im Geschirr grasten friedlich am Fuß einiger Mauerreste.
    Das Gitter wurde mit Ketten und einem Vorhäng e schloss an Ringen im Fels vera n kert, bis es den Brunnen fest verschloss. Es war das scheußlichste Stück Schmi e dea r beit, das Ailis je gesehen hatte: Ober- und Unterseite waren mit armlangen, scharf geschliffenen Stahldornen versehen, die wirr in alle Richtungen abstanden. Von unten war es völlig unmöglich, danach zu greifen, ohne sich zu verletzen. Selbst von oben musste man ungemein vorsichtig sein, wollte man einen Blick in den Brunne n schacht werfen. Ein unüberlegter Schritt, ein Stolpern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher