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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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der gesehen noch von ihnen gehört. Nicht einmal einen Gruß hatten sie ihr von einem der Boten übermitteln la s sen, die Tag für Tag zwischen den Burgen pendelten.
    Nachdem sie die Münze des Pferdebesitzers in Erlands Truhe gelegt hatte, sah sie zu, wie der Schmied seinen Hammer mit aller Kraft auf eine halbfertige Schwertkli n ge krachen ließ. Der Stahl hatte die ganze Zeit über in der Esse gelegen und glühte jetzt, als hätte der Schmied e i nen wahrhaftigen Blitz vom Himmel gepflückt.
    »Niemals lassen sie einen in Ruhe seine Arbeit tun«, knurrte Erland, ohne den Blick von dem leuchtenden Stahl zu nehmen. »Andauernd kommen sie« – der Ha m mer do n nerte herab – »und drängen einem Arbeiten auf, die jeder Bettler« – noch ein Schlag – »am Wegesrand verrichten könnte. Und so jemand nennt sich Ritter des Königs!« Sein letzter Hieb mit dem Hammer war zugleich sein kräftigster, und Ailis war einen M o ment lang überzeugt, dass der Amboss bersten würde. Das G e räusch war schrill und scheppernd und bohrte sich wie Pfeilspitzen in ihre überempfindlichen Ohren. Noch eine ganze Weile lang hallte ein hohes Pfeifen in ihrem Sch ä del nach, und als es schließlich schwand, wurde es von einem anderen Laut abgelöst, der ebenso wenig hierher gehörte. Von Musik.
    »Brauchst du mich im Augenblick?«, fragte sie den Schmied. Sie wartete, bis er schweigend den Kopf schü t telte, dann lief sie hinaus ins Freie.
    In unregelmäßigen Abständen kamen Spielleute auf die Burg, um die Bewohner mit Gesang und Gaukelei zu unterhalten. Was jetzt ertönte, war zweifellos eine Sac k pfeife, laut genug, dass sich allmählich auch andere Me n schen auf dem Hof zum Tor umwan d ten und neugierig beobachteten, wer sich dort näherte.
    Der Mann war höher gewachsen als die kräftigen Wachtposten, die ihn soeben ha t ten passieren lassen, aber von einer stattlichen Erscheinung konnte dennoch keine Rede sein. Er war dürr wie der leibhaftige Tod, mit la n gen Armen und Beinen wie ein Gra s hüpfer. Sein Gesicht lag im Schatten einer bunten Mütze, doch die Kinnpartie, die darunter hervorschaute, war spitz wie eine Messe r klinge. Er lachte, was einigermaßen seltsam aussah; er war der erste Erwachsene, dem Ailis begegnete, der m a kellose Zähne besaß, weiß und ebenmäßig gewachsen. Der wundersame Kerl trug Kleidung aus roter und grüner Seide, die ihn deutlich von manch anderem armen Schl u cker mit einer schönen Stimme unterschied.
    Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer und Frauen im Hof, und schon eilte ein Wachmann ins Haupthaus, um Graf und Gräfin von der Ankunft des G e cken in Kenntnis zu setzen.
    Ailis kannte ihn. Der Spielmann kam nicht zum ersten Mal auf Burg Rheinfels. Wie sein wahrer Name lautete, wusste sie nicht, wohl aber, dass jedermann ihn den La n gen Jammrich nannte. Jammrich, weil er es wie kein a n derer verstand, seine Stimme schla g artig von den tiefsten in die höchsten Töne emporzuschrauben.
    Während sich aus vielen Fenstern der Burgbauten Köpfe r eckten, um den Neua n kömmling zu betrachten, bezog der Lange Jammrich breitbeinig Stellung unter der alten Linde im Hof. Ohne ein Wort der Ankündigung oder Begrüßung begann er zu spielen. Eine leise, beinahe zaghafte Melodie ertönte, die innerhalb weniger Auge n blicke j e dermann in ihren Bann zog. Als der Lange Jammrich sicher war, dass alle sein Spiel verfolgten, wurden die Klänge schneller, wilder, turbulenter. Mit einem Nicken ließ er seine Mütze vom Kopf gleiten; sie kam mit der Spitze am Boden auf, wo sie liegen blieb, weit offen für Gaben aller Art.
    Die Menschen im Hof ließen endgültig von ihren A r beiten ab und näherten sich dem Spielmann. Sogar E r land trat in die Tür seiner Schmiede und blickte stirnru n zelnd ins Freie. Das Doppeltor des Haupthauses wurde geöffnet und heraus traten Graf Wi l helm und seine Frau, gefolgt von Fee und einigen Edeldamen und Dienern. Alle lausc h ten dem Spiel des Langen Jammrich, manch einer wog sich gedankenverloren im Rhythmus der M e lodie. Bald schon war die Mütze des Musikanten unter Silberlingen und anderen Geschenken begraben. Krä u terbeutel, süßes Gebäck, sogar ein lederner Weinschlauch häuften sich vor den wippenden Füßen des Spielmanns.
    Mit Ailis geschah derweil etwas Sonderbares: Es war, als würden ihre feinen Ohren etwas aus der Musik des Langen Jammrich herausfiltern, eine zweite, leisere M e lodie unter der wildbewegten Oberfläche seines Spiels.
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