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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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teil? Der Gedanke kam ihr jetzt zum ersten Mal. Das alles hatte sie offenbar weit mehr durcheinander gebracht als sie es sich bislang eingestanden hatte.
    Und dann, bevor sie weiter darüber nachdenken kon n te, regte sich etwas in ihrem Rücken, und eine Stimme flüsterte: »Hilf mir.«
    Als Ailis erschrocken auf die Füße sprang und heru m fuhr, entdeckte sie am Wal d rand ein kleines Mädchen. Es w ar strohblond, fast weißhaarig, und es konnte kaum ä l ter als fünf Jahre sein. Es trug ein zerrissenes Kleid, so schmutzig und ausgefranst, dass nicht mehr auszumachen war, ob es einmal schön oder schlicht, wertvoll oder ar m selig gewesen war.
    »Wer bist du?«, fragte Ailis und horchte in den Wald. Das Mädchen schien allein zu sein.
    »Ich habe Angst«, sagte die Kleine.
    »Ist niemand bei dir?«
    »Nein.«
    »Wie heißt du?«
    Das Mädchen runzelte die Stirn, als sei dies eine Fr a ge, auf die es keine einfache Antwort gab. »Ich bin … nur ein Kind«, sagte es schließlich, als sei das Erklärung genug.
    Ailis fand die Erwiderung der Kleinen sonderbar, g e wiss, doch zugleich hatte sie Mitleid mit ihr. Vielleicht war sie von zu Hause fortgelaufen, wie Ailis selbst es oft genug tun wollte – tun würde, irgendwann –, und natü r lich brauchte das Mädchen Hilfe, das war nicht zu übe r sehen.
    Ailis stand immer noch am Findling, hinter sich die weite Aussicht über das Rhei n tal. Vom Waldrand und dem Mädchen trennten sie nur wenige Schritte. Das Ei n zige, was sie davon abhielt, auf die Kleine zuzugehen und ihr schmutziges Gesicht in näheren Augenschein zu nehmen, war der schlechte Geruch, der von ihr ausging. Kein Wunder, wahrscheinlich irrte sie schon seit Tagen allein durch die Wälder.
    Das Mädchen streckte eine Hand nach ihr aus. »Hilfst du mir?«, fragte es.
    »Sicher.« Ailis machte einen Schritt nach vorne. »Was ist passiert? Wo sind deine Eltern? Jemand sollte dich waschen.« Lieber Himmel, jetzt redete sie schon wie ihre eigene Mutter. Insgeheim aber war sie ein wenig stolz darauf. Sie w ar eben doch kein Kind mehr, mochte ihr Vater auch noch so oft versuchen, ihr das einzureden.
    Das weißblonde Haar der Kleinen unterschied sich kaum von Ailis’ eigenem. Es war lang, glatt und uno r dentlich. Seltsamerweise schien es nicht ganz so schmu t zig zu sein wie der übrige Körper des Mädchens.
    »Waschen«, wiederholte die Kleine Ailis’ letztes Wort, als gelte es, sorgfältig da r über nachzudenken. »Sauber sein ist gut. Ich bin dreckig. Aber sauber sein ist gut. Machst du mich sauber?«
    Ailis zögerte. War das Mädchen nicht richtig im Kopf? Ach was, dachte sie, die Kleine ist nur verwirrt. Und wer konnte ihr das verübeln, bei dem, was sie a u genschei n lich durchgemacht hatte?
    Ailis tat noch einen Schritt auf das Mädchen zu. Der Geruch war schlimm, aber allmählich gewöhnte sie sich daran. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Kleinen, die Schmutzkruste um ihre Mundwinkel splitterte, zerstob. Ailis lächelte zurück und streckte den Arm aus, um das Haar des Mädchens zu berühren.
    Im selben Moment ertönte jenseits der äußeren Bäume ein Brüllen. Dann schienen die Schatten selbst Gestalt anzunehmen, unförmig auf Ailis und das Mädchen zuz u fla t tern wie riesige, flügellahme Vögel.
    Doch das, was auf sie zukam, war kein Vogel und auch kein Schatten. Es war ein Netz, dessen Ränder mit Steinen beschwert waren. Einer davon streifte Ailis’ Stirn, sie taumelte mit einem Keuchen zurück, prallte gegen den Findling. Einen Moment lang trübte sich ihr Blick. Wie durch Wasser sah sie, wie sich das Netz um das Mädchen schloss, eine Faust aus Knoten und Hanf. Die Kleine fiel zu Boden und im gleichen Augenblick stürzten von hinten zwei Gestalten a us dem Wald, pac k ten die Ränder des Netzes und zerrten daran. Als Ailis wieder klar sehen konnte, erkannte sie, dass eine der Ge s talten ihr Vater war. Er und der andere Mann zogen das strampelnde Kind im Netz zwischen die Bäume, z u rück in den Wald. Ailis sprang auf, lief taumelnd hinte r her.
    »Was tut ihr denn da?«, brüllte sie die beiden Männer fassungslos an.
    Nicht ihr Vater, sondern der andere Jäger rief schna u fend: »Sei still, Kind! Lauf runter zum Ufer und warte, bis wir zurück zur Fähre kommen.«
    Sie dachte nicht im Traum daran zu gehorchen. »V a ter«, rief sie, ohne den anderen Kerl zu beachten, »ihr tut ihr doch weh!«
    Tatsächlich schleiften die Männer das hilflose Kind im Netz über den
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