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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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vielleicht, und man würde unweigerlich von den furch t baren Spitzen aufgespießt.
    Der Graf trat auf Ailis zu. Sie wollte zurückweichen, doch er packte sie fest an den Schultern. Sie hatte en t setzliche Angst vor ihm und seinen Männern und es machte längst keinen Unterschied mehr, dass ihr Vater einer von ihnen war. Sie hatten ein wehrloses kleines Kind getötet und sie würden, wenn es nötig war, das gleiche mit ihr tun.
    »Es war ein Fehler, dich mitzunehmen«, sagte der Graf und blickte ihr starr in die Augen. »Du bist fortg e laufen und warst uns keine Hilfe. Wir haben es auch o h ne dich geschafft. Aber nun, da du einmal hier bist, sollst du einen Schwur ablegen. Hast du das verstanden, A i lis?«
    Sie nickte zögernd und fühlte sich dabei wie gelähmt. Ihre Muskeln schienen ihr kaum noch zu gehorchen.
    »Du wirst schwören«, fuhr Graf Wilhelm fort, »dass du nie ein Wort über das ve r lieren wirst, was du heute mitangesehen hast. Du wirst vergessen, dass du mit uns hier oben warst.«
    »Das kann ich nicht«, wagte sie leisen Widerspruch.
    Ihr Vater trat vor und holte zu einem Schlag aus, doch der Graf hielt ihn mit einem knappen Wink zurück.
    »Ailis«, sagte er eindringlich, »nichts von all dem ist wirklich geschehen. Du wirst niemals, niemals darüber sprechen. Mit keiner Menschenseele. Es wird keine E r kläru n gen geben, keine Zweifel, nicht einmal schlechte Träume. Sobald wir wieder in der Burg sind, wird jeder von uns abstreiten, dass wir je etwas anderes als Rotwild gejagt haben. Schwörst du das bei Gott, dem Herrn?«
    In den letzten Worten des Grafen lagen großer Ernst und eine unausgesprochene Drohung, sodass Ailis abe r mals nickte und schwieg.
    »Wir werden jetzt umkehren«, sagte der Graf. »Kein Wort, keine Silbe, kein Gedanke mehr an all das. Ve r standen?«
    »Ja«, flüsterte Ailis, »verstanden.«
    Und in jenem Moment glaubte sie wirklich, dass sie sich daran halten würde.

 
    1. Kapitel
     
    Ein Jahr später
     
    Von den Zinnen aus schien es, als läge Burg Rheinfels im Halbschlaf. Dichter Nebel dämpfte alle Laute. Kein gleichmäßiger grauer Dunst, sondern scharf umgrenzte Wo l ken, deren Ränder sich verschoben, verschmolzen und wieder auseinander trieben und dabei eine Vielzahl geisterhafte Formen bildeten.
    Fee, die Nichte des Grafen Wilhelm von Katzenelnb o gen, stand auf einem der Wehrgänge und blickte zum Rhein hinab. Sie konnte den Fluss im Nebel nicht erke n nen, hörte aber, wenn sie aufmerksam lauschte, das Ra u schen seiner Strömung. Die wenigsten machten sich die Mühe, einfach nur zuzuhören, dem Raunen der Wälder, dem Flüstern des Windes in den Treppenschächten der Burgtürme oder aber dem Lied des uralten Stroms am Fuß der Felsen. Fee hatte das Zuhören selbst erst erlernen mü s sen, vor ein paar Jahren, als sie alt genug war, seine Faszination zu begreifen. Ailis hatte es ihr beigebracht. Aber Fee dachte nicht mehr oft an Ailis; wenigstens g e stand sie es sich nicht ein.
    Burg Rheinfels thronte über dem Westufer des Stroms, hoch über den Dächern des Dorfes, das eingezwängt zw i schen den Hängen des Burgberges und der Uferböschung lag. Manchmal ging Fee mit einer ihrer Kammerzofen dort hinunter, sah den Bauern beim Kühemelken zu oder beobachtete, wie die Weinernte aus den Bergen gekeltert wurde.
    Nicht, dass ihr all das wirklich etwas bedeutete. Sie war fünfzehn und begann al l mählich, von einem Leben am Königshof zu träumen, von prachtvollen Festen, von herrlichen Kleidern und Rittern in strahlender Krieg s montur. Ihr Onkel hatte ihr ve r sprochen, dass er sie bald dorthin schicken würde, damit man ihr den letzten Schliff zur Edeldame gab. Gewiss, Burg Rheinfels war eine mächtige Festung und ihr Onkel, der Graf, ein Mann von großem Einfluss. Und doch besaß das tägliche Leben hier kaum etwas von dem Glanz, den Fee sich erträumte, wenn sie Geschichten von Banketten und Tanz im Thronsaal König Ludwigs hörte.
    Ihre Eltern hatte sie nie kennen gelernt. Ihre Mutter war bei Fees Geburt gestorben, ihr Vater bald darauf fortgegangen. Niemand wusste, wohin. Fee hatte ihr L e ben unter der Obhut des Grafen und seiner Frau ve r bracht. Die beiden hatten selbst keine Kinder, und so b e handelten sie Fee wie ihre eigene Tochter. Wenn ihr O n kel versprach, sie in naher Zukunft zum Königshof zu schicken, dann glaubte sie ihm. Er war immer aufric h tig und gut zu ihr gewesen.
    »Fräulein Fee!«, rief eine Stimme, und bald darauf löste sich
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