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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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nicht mit ihrem eigenen tat.
    Sie überquerten den verwinkelten Burghof, verfolgt von manchem Männerblick. In der Mitte des Hofes wuchs eine hohe Linde, deren Same vom Erbauer der Burg vor siebzig Jahren von einem Kreuzzug mit in die Heimat gebracht worden war. Um sie herum saßen einige Frauen und nähten, andere füllten am Brunnen Krüge und Eimer. Ein halbes Dutzend Knappen wurde in einer abgelegenen Ecke im Kampf mit Stock und Beil unte r richtet, während Erland, der Burgschmied, vor der Tür seiner Werkstatt stand und den Hinterlauf eines Pferdes begutachtete; es hatte sich beim Ausritt einen Stein oder Metallsplitter in den Huf getreten. Von dem Nebel war hier unten kaum etwas zu bemerken, ohnehin hing meist eine dünne Rauchglocke über dem Hof, gespeist von E r lands Schmiedefeuer und dem großen Flammenherd in der Küche. Auch deren großes Doppeltor stand offen und erlaubte den Blick ins Innere, wo schwitzende Köchinnen mit Kesseln und Spießen, mit Mörsern, Messern und Formen für Gebäck hantierten. Der Duft von Gebratenem vermischte sich mit dem Geruch der nahen Sta l lungen.
    Fees Fuß stieß gegen etwas, das auf dem strohbedec k ten Boden lag, ein winziger Gegenstand aus Metall. Sie bückte sich, um das Ding genauer zu betrachten, und e r kannte, dass es ein langer Stahlnagel war, wie Erland sie häufig verwendete. Sie überlegte noch, ob sie ihn aufh e ben und zum Schmied hinüberbringen sollte, als ihr j e mand zuvorkam. Blitzschnell s choss eine schmale Hand vor, legte sich über den Nagel und riss ihn vom Boden.
    Als Fee aufschaute, stand Ailis vor ihr und hatte die Hand um den Nagel zur Faust geballt.
    »Keine Angst«, sagte Fee, »ich wollte ihn nicht ste h len.«
    Ailis verzog die Mundwinkel, doch es sah nicht aus wie ein Lächeln. »Weshalb sollte ein edles Fräulein wie du das tun?«
    Amrei besann sich derweil ihrer Pflichten als Fees Z o fe und trat zwischen die beiden Mädchen. Sie stützte en t schlossen die Arme in die Hüften und blickte Ailis wu t entbrannt an. »Du solltest ein wenig mehr Respekt vor der Tochter des Grafen zeigen, Mädchen.«
    Ailis schenkte Amrei keine Beachtung, trat nur einen Schritt zur Seite, bis sie über die Schulter der Zofe hi n weg in Fees Augen schauen konnte. »Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings seine Tochter bist. Aber um so erfreuter wird Erland sein, wenn er hört, wie besorgt du um seinen Nagel warst.«
    »Ailis …«, begann Fee, brach dann aber ab. Die Ze i ten, in denen sie als beste Freundinnen die Burg und d e ren Umgebung erkundet hatten, lagen zu lange zurück. Damals waren sie unzertrennlich gewesen. Erst seit jener sonderbaren Veränderung, die mit Ailis vorgegangen war, hatte sich ihr Verhältnis abgekühlt, um schließlich in off e ner Abneigung zu erstarren. Damals hatte Ailis sich ihr langes blondes Haar bis auf Fingerbreite abg e schnitten und es seither nicht mehr wachsen lassen. Die harte Arbeit als Erlands Lehrmädchen hatte ein Übriges getan, dass sie mehr und mehr wie ein Junge erschien. Fremde Edelleute hatten sie des Öfteren für einen Kna p pen gehalten und ihr ihre Pferde anvertraut, eine Aufg a be, der Ailis stets sorgsam nachgekommen war. Die Z o fen tuschelten, dass Ailis alles liebte, das sie nach Stall und Schmutz stinken ließ; vor allem, seit ihre Eltern fort waren und Erland der einzige war, der sich um sie kü m merte. Der Schmied war selbst kein glänzendes Vorbild für Sauberkeit und Ordnung.
    Ailis’ und Fees Blicke kreuzten sich noch einige Atemzüge länger, ohne dass eine der beiden ein weiteres Wort sprach. Dann wandte Ailis sich ab, ging mit schne l len, aber keineswegs überhasteten Schritten über den Hof und trat an Erland und dem Pferd vorbei in die Schmiede.
    »Man sollte sich bei Eurem Onkel über sie beschw e ren«, fauchte Amrei zornig, doch Fee schüttelte sanft den Kopf.
    »Du wirst deinen Mund halten.«
    Amrei starrte sie erschrocken an, aus großen, unglä u bigen Augen. »Aber …«
    »Kein Aber«, sagte Fee beharrlich. »Kein Gerede hi n ter vorgehaltener Hand über sie, ist das klar?«
    Amrei setzte erbost ihre förmlichste Miene auf. »N a türlich, Fräulein. Ganz, wie Ihr wünscht.«
    Was weißt du schon von Wünschen, dachte Fee traurig und schaute Amrei nach, als sie mit gestrafften Schultern und erhobenem Kopf zum Haupthaus stolzierte.
    Fee drehte sich um und sah zum Tor der Schmiede. Ailis kam gerade wieder heraus und reichte Erland eine eiserne Zange. Das Mädchen mit dem hellen
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