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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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Stoppelhaar erw i derte Fees Blick nicht, obwohl sie spüren musste, dass sie beobachtet wurde.
    Das Pferd wieherte schrill, als Erland die Zange a n setzte.
     
    Ailis zog sich ins Innere der Schmiede zurück wie ein Tier, das in den Schutz seiner Höhle flüchtet – Erland hatte diesen Vergleich einmal gewählt. Er hatte wenig Verständnis, dass s ie jedes Mal fortlief, wenn er sich e i nem der Pferde widmete. Sie ertrug es nicht, die Tiere leiden zu sehen, und nicht einmal Erlands berechtigter Einwand, dass er ihnen schließlich helfe und sie von i h rem Leiden erlöse, vermochte sie umzusti m men. Ailis war ihm in allem eine große Hilfe – gewiss weit mehr, als er zu Anfang für möglich gehalten hatte –, doch die Arbeit an den Hufen war ihr zuwider. Sie liebte Tiere viel zu sehr, als dass sie ihren Schmerz hätte ertragen können und Erland hatte gelernt, Ailis’ Eigensinn zu a k zeptieren.
    Immerhin fragte sie ihn im Gegenzug nicht nach dem Gitter, das innen über dem Eingang der Schmiede hing. Es war rund und maß etwa zwei Schritte im Durchme s ser. Erland hatte es mit Hilfe einiger Haken an der Mauer befestigt – als Glücksbringer, wie er einmal gemurmelt hatte, als er bemerkte, dass Ailis das Gitter immerzu a n starrte. Das Ungewöhnliche war, dass etwas die Mitte des Stahlgeflechts zerrissen und aufgebogen hatte, als wären es Streben aus weichen Weidenzweigen. Die Öffnung war groß genug, dass ein Mensch mit schmalen Schultern hätte hindurchsteigen können. Eine Frau vielleicht. Oder ein Kind.
    Aber Ailis sprach nicht über das Gitter. Sie sprach überhaupt nicht viel. Das war e i ne der Eigenschaften, die Erland an ihr schätzte. Er war kein Mann großer Worte, und er konnte keinen Gesellen gebrauchen, der ihn mit Gerede von der Arbeit abhielt.
    Der Schmied war groß, größer noch als der hoch g e wachsene Graf Wilhelm, und seine Schultern waren so breit, dass die ganze Schmiede im Dunkeln lag, wenn er im Eingang stand. Sein langes, dunkelbraunes Haar hatte er am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammeng e fasst, bei Tag wie auch bei Nacht. Ailis hatte noch nie erlebt, dass er die Haare offen trug, und sie nahm an, dass Erland auf das Lederband in seinem Nacken ebenso gut hätte verzichten können, so verfilzt waren die Strähnen an dieser Stelle. Er trug lederne Hosen und eine Schürze, für die wahrscheinlich eine ganze Kuh ihr Leben gela s sen hatte. Soweit Ailis wusste, waren dies seine einzigen Kleidungsst ü cke, abgesehen von einer Fellweste für den Winter. Da Erland an jedem Tag der Woche in seiner Schmiede stand, kam er gar nicht erst in die Verlege n heit, sich für einen and e ren Anlass kleiden zu müssen. Er war eben Erland, und jeder wusste, welche Art von Mensch sich dahinter verbarg. Er galt als Sonderling, beinahe so sehr wie Ailis, und wahrscheinlich war das der Grund, we s halb sie zueinander gefunden hatten. Sie lernte von ihm die Schmiedekunst und machte alle B e sorgungen, nahm die Zahlungen für seine Dienste entg e gen und führte eine Liste über das, was er einnahm und das wenige, das er ausgab. Sie war damals sehr erstaunt gewesen, als sie festgestellt hatte, dass der mürrische Schmied ein reicher Mann war.
    Sie reinigte das Werkzeug, bis Erland den Dorn aus dem Huf des Pferdes entfernt hatte, dann lief sie hinaus und ließ sich vom Besitzer des Tieres eine Münze au s zahlen. Erland vertraute ihr blind und sie war nur ein ei n ziges Mal in Versuchung gekommen, dieses Vertrauen zu missbrauchen. Am Tag, als ihre Eltern davongezogen waren und sie allein in Erlands Obhut gelassen hatten, da hatte sie mit dem Gedanken gespielt, einige Münzen des Schmiedes und ein Pferd zu stehlen und damit von hier zu verschwinden. Irgendwohin, wo der Schatten des Lu r linberges nicht jeden ihrer Tage bestimmte.
    Aber Ailis war geblieben, und sie hatte festgestellt, dass die Lage erträglicher wu r de, nachdem ihr Vater fort war. Manchmal sehnte sie sich heimlich nach den beilä u figen Berührungen ihrer Mutter, nach dem verstohlenen Lächeln, das sie ihr manchmal zugeworfen hatte, wenn ihr Vater nicht hinsah. Die beiden lebten jetzt einen ha l ben Tagesritt entfernt, hinter den Wäldern auf der and e ren Seite des Rheins. Graf Wilhelm ließ dort eine zweite Festung errichten, Burg Reichenberg, und Ailis’ Vater war als oberster Jäger für die Versorgung der Arbeiter verantwortlich. Neun Monde lag die Abreise der beiden nun schon zurück und seither hatte Ailis ihre Eltern w e
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