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Das geheime Bild

Das geheime Bild

Titel: Das geheime Bild
Autoren: Eliza Graham
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    Meredith
    W ir hatten ursprünglich nicht vor, das Wandbild zu zerstören. Doch die Erregung, die mich überkam, als beim Abkratzen der Farbe dieses Bild zutage trat, war rauschhaft. Ich hätte aufhören sollen. Konnte es aber nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich da freilegte.
    Wir waren zehn und elf Jahre alt, also muss es im Herbst 1991 gewesen sein. An einem verregneten Samstagmorgen. Dad machte mit Eltern zukünftiger Schüler eine Führung durch die Schule. Mum vertrat eine erkrankte Lehrerin in Hauswirtschaftslehre. Zu jener Zeit hatte in Letchford jeder am Samstagmorgen Unterricht, egal ob er Internatsschüler oder Externer war. Clara und ich waren noch zu jung für die weiterführende Schule und hatten unsere von der Dorfschule aufgegebenen Hausaufgaben bereits erledigt. Auch Klavier hatten wir schon geübt, sogar die Tonleitern. Also lagen viele Stunden vor uns, die es zu füllen galt, bis mittags der samstägliche Unterricht zu Ende war. Um draußen in der Einfahrt mit unseren Rädern herumzufahren, war es zu nass, selbst wenn dies während der Unterrichtsstunden erlaubt gewesen wäre. Sämtliche aus der Bibliothek entliehenen Bücher hatte ich gelesen. Clara war nie eine große Leserin. Wir versuchten es mit dem Leiterspiel, aber da wir ständig auf den Schlangen landeten und wieder zurück mussten, fingen wir zu zanken an und beschuldigten uns gegenseitig, heimlich das Spielbrett anzuschubsen.
    Bis wir losziehen konnten, um uns in der Pause Kekse mit Schokoüberzug oder Käse-Zwiebel-Chips am Schulkiosk zu kaufen, dauerte es noch eine Ewigkeit.
    Also tranken wir die Milch und aßen die Biskuits, die Mum uns hingestellt hatte. Noch immer war es erst zehn Uhr.
    »Wir könnten was malen.« Clara verzog hoffnungsvoll das Gesicht.
    »Ich hasse Malen.« Eigentlich malte ich gern, aber da meine Versuche nie so gut gelangen wie die meiner Schwester, vermied ich es, in ihrer Nähe den Pinsel aufs Papier zu bringen.
    »Mir ist sooo langweilig.«
    »Mir auch.« Und es würde nicht viel besser werden, wenn Mum und Dad zur Mittagszeit zurückkamen, überlegte ich. Dad steckte bis zu den Ohren in der Organisation des Neubauprojekts. Er würde den ganzen Nachmittag in seinem Büro sitzen, Papierkram erledigen und sich über Verzögerungen und zu bezahlende Rechnungen ärgern. Mum würde ihm dabei helfen. Dann würden sie einen Rundgang um die neuen Häuser für die Internatsschüler und die Turnhalle machen, um sich zu vergewissern, dass alles seine Ordnung hatte. Mitnehmen würden sie uns dabei nicht, denn für Kinder unseres Alters erachtete man Baustellen als zu gefährlich.
    Clara stellte sich auf einen Stuhl und legte ihr Ohr an die Wanduhr, um zu hören, ob sie nicht stehen geblieben war. Sie meinte, sie ticke noch. Noch eine halbe Stunde bis zur Vormittagspause, in der Mum kommen würde, um bei uns nach dem Rechten zu sehen. Während des Schultrimesters fielen wir auf der Prioritätenliste ganz nach unten wie Kieselsteine in einem Teich. Manchmal hasste ich es, Letchford mit allen anderen teilen zu müssen, auch meine Eltern teilen zu müssen. Doch Mum und Dad wurden nicht müde, uns daran zu erinnern, dass wir die Ferien ganz für uns hatten, abgesehen von einzelnen Schülern oder Lehrern, denen es nicht möglich war, ans andere Ende der Welt nach Hause zu fahren. »Dieses Haus wäre schon vor vielen Jahren verkauft worden, wenn wir nicht eine Schule daraus gemacht hätten«, erinnerte Mum uns und ließ dabei rasch ihren Blick über die eichenvertäfelten Räume schweifen, in denen wir lebten. »Das ist der Preis, den wir dafür zahlen.«
    »Ihr wisst gar nicht, wie glücklich ihr euch schätzen könnt, so viel Beständigkeit zu haben«, pflegte mein Vater mit geistesabwesendem Blick zu sagen.
    Manchmal wünschte ich mir, in einem Doppelhaus im Dorf zu leben, wie meine Freundin Janet aus der Grundschule. Wo immer der Fernseher lief. Nur wir vier. Keine anderen Kinder. Eine Mutter, die entweder in der Küche oder draußen im Garten war. Keine merkwürdigen Lehrer, die nachts in ihren nach Mottenkugeln riechenden Tweedklamotten und Lesebrillen herumschlichen. Wo wir unsere Eltern nicht mit dreihundert anderen Jugendlichen teilen müssten. Und jetzt würde Dad auch noch Internatsschüler aufnehmen. Großartig. Noch weniger Zeit für uns.
    »Du würdest uns doch nicht in ein Internat stecken, oder?«, fragte ich meine Mutter.
    »Nein.« Die Antwort kam rasch und entschieden.
    »Warum lässt du dann zu, dass
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