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Die Farben des Chaos

Titel: Die Farben des Chaos
Autoren: L. E. Modesitt
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I
     
    C erryl trat von einem Bein aufs andere. Er stand in der westlichen Ecke vor der Brüstung, die das Dach der Wachstube umgab. Auf seinem Posten am Nordtor der Weißen Stadt Fairhaven war dies die einzige Stelle, die von den Sonnenstrahlen erreicht wurde. Seine weiße Lederjacke war bis zum Hals zugeknöpft, und obwohl er darunter das dicke Hemd und die weiße Wolljacke trug, die zur Winterkleidung eines vollwertigen Magiers gehörten, war ihm kalt.
    Er blickte hinunter zum weißen Granitpflaster der Hauptstraße, die nach Norden bis Lydiar verlief. Ein Stück entfernt, an einer Stelle, die er von seinem Posten aus nicht mehr sehen konnte, beschrieb sie einen Bogen nach Osten.
    Es war im Laufe des Tages wärmer geworden, und inzwischen stand Cerryl der Atem nicht mehr als weiße Wolke vor dem Mund, doch der Nordwind pfiff ihm nach wie vor um die weiße Wollhose. Er blickte zu den Bewaffneten in den rot gesäumten weißen Waffenröcken hinunter, die mit schweren Stiefeln vor dem Tor auf und ab trampelten und auf Reisende warteten.
    Das Rumpeln eiserner Räder auf dem Stein schreckte Cerryl auf. Auf der Hauptstraße kam ein Wagen in Sicht. Die hohen Seitenwände waren türkis und beige gestrichen, ein ganzer Zug Lanzenreiter in türkisfarbenen Uniformen bildete den Begleitschutz. Zehn ritten dem Wagen voraus, die anderen zehn folgten hinterher. Türkis war die Farbe des Fürsten von Lydiar.
    Cerryl fragte sich, was da unter dem Schutz so vieler Lanzenreiter nach Fairhaven geliefert wurde. Kisten voller Goldstücke, mit denen der Straßenzoll entrichtet werden sollte? Die vier Pferde hatten jedenfalls kräftig zu ziehen, demnach trug der Wagen eine schwere Last.
    Der ebenfalls türkis uniformierte Kutscher lenkte das Gespann zu den Stadttoren und den Weißen Bewaffneten. Die lydischen Lanzenreiter zügelten die Pferde neben dem Wagen.
    »Wegezoll und Waren für Fairhaven. Wir wollen zum Platz der Magier«, verkündete der lydische Hauptmann, ein vierschrötiger Kerl mit schwarzem Haar und Bart. Er reichte dem Anführer der Stadtwächter eine Schriftrolle.
    Cerryl holte tief Luft und untersuchte den Wagen mit seinen Ordnungs- und Chaos-Sinnen. Er hatte Metall geladen – Münzen in Kisten, wie Cerryl vermutet hatte. Es waren allerdings nur drei Kisten. Unter dem dunkelgrauen Segeltuch standen außerdem ein Dutzend kleine Fässer, in denen sich möglicherweise Salz befand. Der größte Teil der Salzlieferungen kam aus Lydiar, denn dort war der nächstgelegene Hafen; doch selbst dieser Hafen war noch zwei lange oder drei kürzere Tagesreisen von Fairhaven entfernt.
    Der Anführer der Stadtwache blickte fragend zu Cerryl hinauf. Zwei Lanzenreiter, die hinter dem lydischen Offizier warteten, bemerkten den Blick. Einer schluckte, als er Cerryls weiße Kleidung sah.
    »So steht es auch auf dem Dokument, Ser«, rief der Anführer der Wache zu Cerryl hinauf.
    »Die Angaben treffen zu, Diborl«, antwortete Cerryl.
    »Ihr könnt passieren«, sagte der Wächter.
    Der Wagen rollte an der Wachstube vorbei und Cerryl lauschte. Lauschen war immer noch das Spannendste, was er auf diesem Posten tun konnte.
    »… immer ein Magier hier?«
    »Immer … manchmal wird jemand zu Asche verbrannt …«
    »… hör doch auf mit diesen dummen Witzen …« »Nein … darüber macht man keine Witze …« Cerryl hatte bisher, seit er am Stadttor Dienst tat, das Chaos-Feuer noch nicht gegen aufsässige Personen einsetzen müssen, aber er hatte zwei Wagen mit Konterbande verbrannt. Einer hatte eiserne Klingen unter der Ladefläche transportiert. Der Kutscher und sein Helfer waren jetzt beim Straßenbau und würden den Rest ihres Lebens damit verbringen, die Weiße Hauptstraße durch die Westhörner zu bauen.
    Der junge Magier zuckte mit den Achseln. Seiner Ansicht nach hatten die beiden Männer die Schmuggelei nicht einmal selbst ausgeheckt und wahrscheinlich hätten sie auch nicht viel daran verdient. Er war früher Mühlengehilfe und Lehrling bei einem Schreiber gewesen und hatte die Magie unter dem Obermagier Jeslek erlernt. All seine Erfahrungen hatten ihm eines verdeutlicht: So streng die Regeln der Gilde auch waren, so hart die Strafen auch sein konnten, so ungerecht sie manchmal auch verhängt wurden, so waren die Wahlmöglichkeiten doch noch weitaus schlimmer.
    Nachdem er eine Weile mit den weißen Stiefeln auf der Stelle getreten hatte, ging Cerryl wieder auf dem Dach des kleinen Wachhäuschens umher, vier Schritte hin, vier zurück,
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