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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Prolog
    Der letzte Klang der Glocke erstarb. Die Abendmesse war vorbei. Ein stürmischer Wind jagte Wolkenfetzen über den bleichen Mond. Er heulte durch Felsschluchten und strich wie mit strafender Hand über die Wipfel der Bäume, die sich bogen und wegduckten. Er rüttelte an Fensterläden, wirbelte den Schnee auf der leeren Kreuzung hoch und trieb ihn wütend vor sich her. Das gelbe Licht der Straßenlampen legte sich wie ein Heiligenschein um die Laternenmasten. Es war so kalt. Es war so leer.
    Und es war dunkel in dem kleinen Zimmer unterm Dach. Sie lag im Bett und lauschte auf die Stimmen des alten Hauses. Es sprach mit ihr. Mal knarrend und böse, wenn die Dachsparren sich in der klirrenden Kälte verzogen. Und dann wieder sanft und leise wie ein Seufzen, gehaucht aus den uralten Mauern, sobald jemand zwei Stockwerke weiter unten die Treppe betrat. Sie hörte dem Haus gerne zu. Es konnte so viele Geschichten erzählen. Von Prinzessinnen, die hier Zuflucht vor bösen Häschern gefunden hatten. Von wilden, stolzen Jägern, die mit ihrer Beute zurückkehrten. Von silbernen Kutschen, deren Fenster mit Spinnweben verhängt waren und die von Pferden gezogen wurden, deren Hufe Funken schlugen auf den Gipfeln der Berge …
    Die Schultüte stand neben der Tür. Die Puppe lag mit geschlossenen Augen in ihrem Arm.
    »Keine Angst«, flüsterte sie. »Ich bin ja bei dir.«
    Sie zog die Decke höher und breitete sie sanft über der Puppe aus. Heute würde sie von einem Ritter träumen. Er wohnte draußen im Berg und die Höhlen waren sein schimmernder Palast. Eines Tages würde sie ihn finden. Sie stellte sich den Moment vor, in dem sie barfuß den gewaltigen Thronsaal erreichen würde, und alle Blicke wanderten über das kleine Mädchen, das zerlumpt und mit letzten Kräften das silberne Reich des Ritters gefunden hatte. Und er, der Schönste von allen in einer leuchtenden Rüstung, er lächelte, und er stand auf, und er hielt ihr die Hand entgegen.
    Das Haus seufzte.
    Dieses Mal klang es nicht sanft. Es war eine Warnung. Der Atem des Mädchens wurde flacher, sein Herz begann zu jagen. Schwere Schritte kamen die Treppe hinauf. Sie hielten nicht an im ersten Stock. Das Mädchen verkroch sich in seinem Kissen und presste die Puppe noch enger an sich. Schlagartig war der Traum vom Ritter vergessen und an seine Stelle trat namenlose Furcht. Das Mädchen sandte eine kleine wimmernde Bitte in den Himmel. Nicht. Bitte nicht.
    Doch der Himmel war taub. Vielleicht, weil der Wind so laut und brausend war und Gebete mit sich fortriss und wirbelnd zerstreute wie eine Schaufel Federn.
    Die Schritte erreichten den letzten, den dritten Stock. Das Dachgeschoss mit seinen wenigen kleinen Räumen und den schrägen Wänden. Durch den Spalt unter der Tür fiel ein Streifen Licht ins Zimmer. Das Mädchen presste die Lippen zusammen, um sich mit keinem Laut zu verraten. Die alten Dielenbretter knarrten ärgerlich unter dem Gewicht des Störenfrieds. Das Schloss quietschte zornig, als der Schlüssel umgedreht wurde. Die Tür klemmte und wehrte sich, sie wollte den Eindringling nicht durchlassen.
    Was kann ein Haus schon tun gegen die Dinge, die sich in seinem Inneren ereignen? Nichts. Es erträgt, was geschieht, in stoischem Gleichmut. Es schweigt. Es schützt den Verfolgten und den Mörder. Denn es unterscheidet nicht, wem es seine Türen öffnet.
    Doch etwas in den Mauern wird nicht vergehen. Es wird sich erinnern. Es wartet auf den Tag, an dem die Dinge ans Licht kommen. Es ist nicht zu fassen und nicht zu beschreiben. Es ist nicht zu fühlen und nicht zu sehen. Es ist wie ein Flüstern im Sturm.
    Eines Tages wird jemand kommen, der im Dunkeln sehen und das Flüstern im Sturm hören kann. Dann werden die Steine weinen und die Vögel tot vom Himmel fallen und die Tränen, die Tränen aus Eis werden tauen.

Eins
    Ein Besen. Eine halbe Postkarte. Ein Stein.
    Nico sah nach links zu ihrer Mutter, nach rechts zu ihrem Vater, dann geradeaus zu dem Notar – einem bleichen Mann mit schütterem grauen Haar und randloser Lesebrille, der sich einen Aktenhefter aus dunkelblau marmorierter Pappe vor die Nase hielt und daraus mit leiser, monotoner Stimme vorlas. Sie saßen zu dritt vor einem riesigen Schreibtisch. Wahrscheinlich war er nötig. Bei solchen Erbschaften ging man vermutlich gerne mal auf den Testamentsvollstrecker los.
    »Diese drei Dinge vermache ich meiner Großnichte Nicola Wagner zum weisen Gebrauch.«
    Der Notar ließ den Aktenhefter
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