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Lindenallee

Lindenallee

Titel: Lindenallee
Autoren: Katrin Rohde
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Straßenlaternen erhellten das Innere des Busses nur schwach. Wilhelm drehte sich zu Paula und streckte sich ausgiebig. Er verschränkte die Arme hinterm Kopf und sah sie durchdringend an. „Nun mal heraus mit der Sprache. Kein Herumgerede um den heißen Brei. Wir sind hier unter uns. Niemand hört zu und mir steht es nicht zu, dich in irgendeiner Weise zu verurteilen.“
    Paula zögerte einen Moment.
    „Gib dir einen Ruck und rede es dir von der Seele.“
    Paula holte tief Luft, dann schoss es aus ihr heraus. „Ich bin wütend auf Magarete! Wie konnte sie einfach so gehen?“ Sie hieb heftig mit der Hand auf den gepolsterten Griff, trotzdem durchzuckte ihre Hand ein stechender Schmerz. „Sie hat mich hier alleine zurückgelassen. Mich, mit tausend Fragen, die sie nie beantworten wird. Ich hasse sie.“ Erschrocken über ihre Worte hielt sie sich die Hand vor den Mund. „So etwas wollte ich nicht sagen“, stammelte sie schockiert über sich selbst. Die Hand sank ermattet in ihren Schoss.
    Wilhelm schwieg und ließ sie weiterreden.
    „Ich tue ihr Unrecht, ich hasse sie nicht. Ach, ich weiß einfach nicht meine Gefühle einzuordnen. Es ist alles durcheinander und ich kann mich selbst nicht ausstehen, ich bin ein richtiger Kotzbrocken. Ich benehme mich unmöglich gegenüber meiner Familie, Freunden und vor allem Steffen. Ich bin ganz furchtbar.“ Eine Träne löste sich aus ihrem Auge und tropfte hinab. Eine zweite folgte, eine dritte, dann waren die Tränen nicht mehr zu stoppen. Sie verbarg ihr Gesicht hinter den Händen und schluchzte laut. Endlich konnte sie die Tränen vergießen, die sie gequält hatten. Sie weinte um sich, ihre verkorksten letzten Tage, aber vor allem weinte sie um Magarete. Die Wut wandelte sich allmählich in Trauer.
    Wilhelm ließ sie gewähren und warf verstohlen einen Blick auf die Uhr. Er hätte seit zwei Minuten auf der Straße sein müssen, aber das zählte jetzt nicht. Die Zeit würde er durch die ausgeschalteten Ampeln wieder hereinholen.
    Paula beruhigte sich langsam und zog den Rotz hoch.
    „Taschentuch?“
    Sie nickte, während Wilhelm in seiner großen Tasche wühlte und ihr ein Paket reichte. „Nimm es, ich denke, du wirst sie heute noch brauchen.“
    Er startete den Dieselmotor und nahm seine Tour rund um die Stadt auf. Sie rauschten mit hoher Geschwindigkeit über die leeren Straßen, keine Fahrgäste stiegen hinzu, es war als seien sie die einzigen Menschen, die wach waren. Paula schwieg nach ihrem Weinkrampf und fühlte sich auf beinahe wundervolle Weise innerlich total leer. Aufgeräumt.
    Wilhelm steuerte die Bushaltestelle an, an der er Paula aufgegabelt hatte und öffnete seine Tür. „Zeit für dich, nach Hause zu gehen.“
    Paula öffnete den Mund, um zu widersprechen. Wilhelm kam ihr zuvor und schüttelte den Kopf. „Du bist bestimmt noch nicht reif für die Welt, aber ein Anfang ist gemacht. Und du solltest jetzt nicht mehr durch die Nacht fahren.“ Etwas unsicher kratzte er sich am Kinn. „Einen Ratschlag möchte ich dir trotzdem mitgeben: nimm dir so viel Zeit zum Trauern, wie du brauchst. Aber bitte vergiss nicht, wie sehr sich deine Familie um dich sorgt. Gib ihnen eine Chance, mit dir zu trauern, ja?“
    Stumm nickte Paula und umarmte den überraschten Wilhelm. Sie hielt ihn einen kurzen Moment fest und flüsterte leise „danke“.
    Das große Ungetüm setzte sich wieder in Bewegung, die roten Rücklichter verschwanden in der Nacht. Paula blieb an derselben Stelle stehen, sah gedankenverloren die Straße hinunter, ehe sie sich einen Ruck gab.
    Bislang hatte sie nie an Engel geglaubt, aber dieser Abend ließ sie ins Wanken geraten. Wenn es sie gab, dann war ihrer in Person von Wilhelm aufgetaucht. Sie seufzte, als sie durch die schlafenden Straßen lief. Zu Hause auf ihrer Kommode lag der Umschlag von Magarete. Sie musste ihn heute noch öffnen und lesen. Es war Zeit, reinen Tisch zu machen.

39
    Steffen saß im Behandlungszimmer an seinem Schreibtisch und betrachtete trübselig die Fotos, die vor ihm standen. Das Bild von Kira strahlte wie jeher Frohsinn und gute Laune aus. Seine Tochter liebte es fotografiert zu werden und warf sich regelmäßig in Pose.
    Das andere Foto zeigte eine Person in derselben Gemütslage wie Kira, lebenslustig, gut gelaunt und guter Dinge. Aber es hatte einen faden Beigeschmack. Er liebte dieses Lächeln, aber er hatte es nach seinem Dafürhalten Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sanft strich er mit dem Finger über das kühle
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