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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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den gütigsten Menschen der Welt geben, so wusste der Lemming den starren, verknöcherten Dogmen und Riten des Christentums trotzdem nichts abzugewinnen. In der vierten Volksschulklasse, vor gut dreißig Jahren, hat er seine letzte Messe besucht; kurz danach hat er auch Pater Pius aus den Augen verloren.
    «Leopold Wallisch, natürlich, ich kann mich erinnern: Ein lieber Bub bist du gewesen, brav, aber aufgeweckt. Ich weiß noch, wie du mich einmal gefragt hast, ob sich der liebe Gott in den Spiegel schauen kann. Aber sag einmal, Leopold, was kann ich tun für dich?»
    «Einen Krankenwagen! Wir brauchen sofort   …»
    «Nur mit der Ruhe», ist dem Lemming da die fuchsrote Frau ins Wort gefallen, ohne sich umzuwenden. «Schauen S’ einmal her: Man kann schon ein Stück vom Kopferl sehen.»
    Gleich darauf hat sie den Pater um das Tuch gebeten, und Pius hat sich – sichtlich dankbar – vom Ort des Geschehens entfernt. Der Anblick des behaarten Schoßes, gepaart mit dem Hecheln, dem Schnaufen, dem Schmerzensgebrüll: All das war doch ein bisschen viel für seine Nerven. Auch wenn es(dessen war sich der Pater durchaus bewusst) zu Gottes Schöpfungsplan gehörte, so kann die Schöpfung eben auch ziemlich beängstigend wirken, selbst auf einen alten Ordensbruder, der ja sozusagen höchstpersönlich in der Herstellerfirma beschäftigt ist.
    Mit wehenden Fahnen biegt Pater Pius jetzt um die Ecke, aber zu spät: Auf den Boden gebreitet liegt schon das Hemd des Lemming; er selbst sitzt mit nacktem Oberkörper daneben, ein blutiges, zuckendes Bündel in seinen Armen.
    «Halleluja   …» Pater Pius bleibt ruckartig stehen und lässt die Klosettrollen sinken. «Halleluja», sagt er noch einmal. «Es ist ein Wunder   …»
    Und es ist auch ein Wunder.
    Ein kleines Stück Leben, das – ohne zu wissen, wie ihm geschieht – in einer nie gekannten Dimension erwacht. Das nicht nach Hause kommt, nicht heimkehrt, sondern auf einen gewaltigen, unsagbar fernen Planeten geschleudert wird. Eine Sturzflut fremder Reize bricht mit einem Schlag auf seine verletzlichen Sinne nieder, Gerüche, Geräusche und gleißendes Licht vermengen sich mit dem Gefühl der Kälte auf der bloßen Haut: Zu viele Empfindungen, um sie zu entwirren oder gar ihre Bedeutung zu verstehen. Das kleine Stück Leben ist vollkommen hilflos, es weiß nichts und kann nichts: ein unnützes Sandkorn im Mahlwerk der Welt.
    Aber eben doch ein Sandkorn. Die einzige Fähigkeit, die es besitzt, wendet es gnadenlos an: Es bringt das Getriebe des Mahlwerks zum Stocken, wobei es sich einer Methode bedient, die zwar einfach erscheint, aber zweifellos magisch ist: Das kleine Stück Leben ruft Liebe hervor. Pure und bedingungslose, kurz gesagt: vollkommene Liebe.
    Es ist tatsächlich ein Wunder.
    Der Lemming kriegt schon wieder feuchte Augen. Er blinzelt hinab auf das schrumplige Etwas, das sich – gerade so langwie sein Unterarm – an seiner Brust räkelt. Die erbsengroßen Zehen, die dünnen, bebenden Glieder am auberginenförmigen Rumpf, der nach wie vor an der weißlichen Nabelschnur hängt. Dann der langgestreckte Schädel, am Scheitel fast kahl, aber von einem blauschwarzen Haarkranz umrahmt. Darunter die samtigen Ohren, deren Ränder sich in Rüschen legen wie die Blätter einer Blüte, die sich erst entfalten muss. Und schließlich das runde Gesicht, ganz zerknautscht von der Reise ins Licht. Große, dunkle Augen sehen den Lemming an.
    «Sag, Poldi   … Was haben wir eigentlich?»
    Klaras Stimme klingt müde und weich. Sie lehnt an der Wand, mit geschlossenen Lidern, und lächelt. Der Lemming rückt näher und schmiegt sich an sie.
    «Wenn’s ein Mädchen ist, dann hat es ziemlich große Eier», meint er leise.
    In der Zwischenzeit hat sich die fuchsrote Frau die Spangen aus ihren Haaren gezogen. Sie beugt sich über den Säugling, dessen winzige Finger sich fest in den Brustpelz des Lemming krallen, und heftet die zwei Klammern an die Nabelschnur. Dann zieht sie eine handliche Küchenschere aus ihrer Jackentasche.
    «Wollen Sie das machen?»
    Zaudernd greift der Lemming zu, und ebenso zögerlich setzt er die Schere an.
    «Worauf warten Sie noch?»
    Ein Schnitt nur. Er kappt das zähe Gewebe, zerschneidet das Band, trennt endgültig Mutter von Kind. Und als wäre der Kleine sich dessen bewusst, dass seine Versorgungsleitung nun endgültig stillgelegt ist, saugt er sich schmatzend an der rechten Brustwarze des Lemming fest.
    Pater Pius ist leise näher getreten und
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