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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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    Geboren werden ist wie in Rente gehen. Man leert den Schreibtisch und räumt das Büro. Man händigt dem Portier die Schlüssel aus, verlässt zum letzten Mal die Firma und bricht in eine ungewisse Zukunft auf. Es wird schwierig sein, sich in sein neues Leben hineinzufinden. Mit jedem Schritt aber, den man tiefer in dieses neue Leben macht, vergisst man das alte: Noch ehe man gelernt hat, aus einer Schnabeltasse zu trinken, ist alles Vergangene ausgelöscht.
    Geboren werden heißt, den Sinn für die Einheit der Welt zu verlieren. Um jede Erinnerung an ein Vorher zu tilgen, hat die Natur eine Schleuse eingerichtet, in der man neun Monate lang verharren muss, ehe man in die materielle Welt entlassen wird. Diese Wartezeit verstreicht nicht ungenutzt, sie dient der Auslöschung unserer kosmischen Software. Im Umerziehungslager Mutterbauch werden die Festplatten neu bespielt; hier lernt man alles, was man braucht, um sich als stoffliches Einzelwesen gegen andere zu behaupten. Die Sinne spalten sich auf und werden von innen nach außen gestülpt: die Augen, um zu sehen, was man besitzen will, die Ohren, um zu hören, wer es einem streitig macht. Die Nase zum Aufspüren des Feindes, die Hände zum Töten, der Mund zum Zerfleischen.
    Die Geburt eines Kindes ist also ein großes Vergessen: Was immer davor war, es zählt nicht mehr. Und das gilt ganz besonders für die Eltern, da können sie noch so geplant und getüftelt, phantasiert und orakelt haben. Kein Luftschloss hält den Urgewalten stand, die drei Kilo Mensch in ihr Leben bringen, kein vorab ersonnener Zeitplan und kein liebevoll möbliertesKinderzimmer. Eine Spieluhr, die Vivaldi spielt? Das Kind wird Mozart hören wollen. Wiege, Stubenwagen, Babykorb? Das Kind wird im Ehebett liegen. Rosa Tapeten? Das Kind wird ein Bub sein. Ganz abgesehen davon, dass es sein eigenes Zimmer – egal, wie es gestaltet ist – mit ähnlichem Enthusiasmus bewohnen wird wie Hannibal Lecter sein panzerverglastes Verlies.
     
    «Wart einmal, Poldi   …» Klara greift nach dem Arm des Lemming und verlangsamt ihre Schritte. «Wart kurz   …» Sie bleibt stehen, senkt den Kopf. Lauscht tief in sich hinein. Unfassbar schön ist sie, denkt – wie so oft in letzter Zeit – der Lemming. Schön sind die ruhigen, leuchtenden Augen, schön auch die prallen Brüste über dem mächtig gerundeten Bauch. Schön ist das ganze blühende, duftende, vollreife Weib. Sogar der etwas entenhafte Gang, mit dem sie die Last zweier Körper trägt, ist wunderschön. Das Herz des Lemming schlägt höher, wie das eines Kindes, dem vom festlichen Gabentisch her ein verheißungsvolles Paket entgegenlacht.
    «Nein, es war nichts.» Klara schüttelt den Kopf. «Nur so ein Ziehen: Senkwehen, du weißt schon.»
    Selbstverständlich weiß der Lemming, was Senkwehen sind. In den vergangenen Monaten hat er ein halbes geburtsmedizinisches Studium absolviert. Mit Austreibungsphasen und Steißlagen, Spinal- und Periduralanästhesien, Kardiotokographien und vorzeitigen Blasensprüngen ist er auf Du und Du. Auch sein Geschick bei der Handhabung unverzichtbarer Accessoires wie indischer Tragetücher oder japanischer Fläschchenwärmer hat er perfektioniert. Seine Wickeltechnik ist ebenso unübertroffen wie seine Fertigkeit bei der Zwei-Finger-Bäuchleinmassage. Kurz gesagt: Der Lemming ist bereit. Mehr als bereit. Er fiebert dem Augenblick entgegen, da er all das Gelernte auch anwenden kann. Nicht an einer zerschlissenen Stoffpuppe wie bisher, sondern (bei diesem Gedankenhüpft wieder sein Herz) an seinem eigenen warmen, lebendigen Kind.
    Über eines aber ist der Lemming nicht im Bilde, und das ist der Zeitpunkt dieses alles verändernden Augenblicks. Wüsste er, was ihn in Kürze erwartet, er stünde wohl nicht so verträumt auf dem Gehsteig   …
    «Kommst du?» Klara schenkt ihm ein unergründliches Lächeln und watschelt voraus, die menschenleere Berggasse hinab in die Senke der Rossau.
    Ein wunderbar friedlicher Frühlingsmorgen liegt über den Dächern der Stadt. Vom wolkenlosen Himmel strahlt die Sonne und wärmt den – für gewöhnlich mit Autos verbarrikadierten – Asphalt. Gott lacht sich ins Fäustchen, er weiß, warum er den Wienern justament heute ein klassisches Kaiserwetter beschert: Es ist der Erste Mai, und für den alljährlichen Maiaufmarsch der Sozialdemokraten kann es kein schlechteres Wetter geben. Proletarisches Wirgefühl hin oder her: Den arbeitsfreien Tag der Arbeit im sonnigen Grünen zu
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