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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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Ein generöses Angebot, wenn man bedenkt, dass er dazu ohnehin verpflichtet ist. Wie auch immer, manche werden’s wohl nicht mehr erleben: Die alte Schestak aus dem zweiten Stock zum Beispiel, oder der kranke Novotny, der seine Krücken erst kürzlich gegen einen Rollstuhl getauscht hat.
    Zweieinhalb Jahre, und jetzt das. Ein Segen nur für den Lemming, dass er Zuflucht bei Klara gefunden hat, und ein noch größerer Segen, dass er sie weiterhin finden wird. Am besten für immer   …
    Endlich hat er die dritte Etage erreicht, mit brennenden Lungen und rasselndem Atem steht er vor seiner Wohnungstür. Keine Zeit zu verschnaufen: Schon suchen die zitternden Hände das Schlüsselloch, stoßen den Schlüssel hinein.
    Er lässt sich nicht drehen.
    Der Lemming packt zu, er zerrt und rüttelt und lehnt sich mit vollem Gewicht an die Tür, doch der Schlüssel steckt fest; er rührt sich keinen Millimeter.
    «Du verfluchter   … Sakra   … Hurrns!»
    Mit all seiner Kraft versucht der Lemming, das widerspenstigeDing aus dem Schloss zu reißen. Ein trockenes Knacken, er taumelt zurück   …
    Gut, dass es nur der Schlüssel zum nicht mehr vorhandenen Dachboden war. Schlecht, dass sein abgerissener Bart nun im Wohnungsschloss steckt.
     
    Als der Lemming aus dem Haustor taumelt, ist er vor Verzweiflung den Tränen nah. Er hat sich mehrmals gegen seine Tür geworfen, dann gegen jene der Nachbarn gehämmert – erfolglos. Niemand ist heute daheim, das Haus ist verwaist wie die Straßen: Keine Menschenseele lässt sich blicken. Außer Klara.
    Im Schatten einer alten Linde kauert sie auf einer Parkbank, regungslos – nahezu regungslos: Ein leichtes Beben durchläuft ihren Körper, begleitet von einem verhaltenen Wimmern. Der Lemming setzt sich neben sie, umfasst ihre Schultern von hinten und stiert auf die andere Seite des Platzes, zum grünen Portal des Café
Kairo
hin. Nicht, dass das
Kairo
am Ersten Mai Ruhetag hätte – genauso wenig wie zu Ostern oder zu Weihnachten   –, doch wird es seine Pforten erst in einer halben Stunde öffnen: entschieden zu spät für ein dringendes Telefonat.
    «Kommt jetzt wer?» Klara wendet sich um, ihr Gesicht ist fahl und schmerzverzerrt. «Ich glaub, es wär schön langsam an der Zeit – die Fruchtblase ist grad geplatzt   …»
    Unter der Parkbank hat sich ein kleiner, glitzernder Teich gebildet. Mit nassen Schuhen springt der Lemming auf. Nur wenige Schritte, und er steht vor dem mächtigen Kirchentor, die Arme erhoben wie Moses vor dem Roten Meer.
    «Hilfe», brüllt er über den Platz. «Hilfe! Kann mich denn keiner   …»
    Und da ertönt nun endlich ein Geräusch, das, wenn schon nicht auf menschliches, so doch auf primitives Leben in diesem Winkel der Stadt schließen lässt: Schräg vis-a-vis, zweiStockwerke über dem
Kairo
, werden energisch die Fenster geschlossen.
    «Hilfe! So helft uns doch jemand! Wir brauchen doch nur   …»
    Abrupt verstummt der Lemming und wendet sich lauschend nach rechts: Dort, um die Ecke, lässt sich auf einmal ein leises Quietschen und Rumpeln vernehmen: Zweifellos Räder, die über das Kopfsteinpflaster rollen.
    «Gott sei’s gedankt   …»
    Auf der anderen Straßenseite erscheint jetzt ein Rollstuhl, in dem ein zusammengesunkener Mann sitzt. Dahinter – mit hurtigen Schritten – geht eine Nonne. In wehendem, langem Gewand, den Kopf von einem schwarzen Schleier fest umhüllt, so schiebt sie den Rollstuhl den Gehsteig entlang.
    «Verzeihen Sie! Schwester! Könnten Sie uns bitte   …»
    Keine Reaktion. Weder Nonne noch Mann scheinen den Lemming bemerkt zu haben; keiner der beiden wendet den Kopf.
    «Hallo! Sind Sie’s, Herr Novotny?»
    Natürlich ist er es nicht. Der kranke Nachbar des Lemming ist älter und schmächtiger, und er trägt – im Gegensatz zum regungslosen Mann im Rollstuhl – immer nur Hut, niemals eine blau-gelbe Schirmmütze.
    «Schwester! Bitte! Ich brauche Hilfe!»
    Die Klosterfrau beschleunigt ihre Schritte, sie verfällt in leichten Trab, um zügig in die Grünentorgasse zu biegen.
    «Herrgottsakra! Können S’ mich denn nicht verstehen?»
    Wieder läuft der Lemming los, er quert den Platz, bereit, sich der Frau in den Weg zu stellen. Aber auch sie beginnt nun zu laufen: Wie ein archaischer Bauer den Pflug, so stößt sie den Rollstuhl voran. Das Holpern der Räder wird zum Rattern, der Kopf mit der blau-gelben Kappe schlingert haltlos hin und her. Schon hat die eilige Schwester die Hahngasse erreicht; mit
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