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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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sagen will, doch ändert das nichts an der Art der Gedanken, die sein Bewusstsein beherrschen: Mörser! Panzerfaust! Raketenwerfer!
    Nichts
, hat Stefan Zweig einmal geschrieben,
macht einen wütender, als wenn man wehrlos ist gegen etwas, das man nicht fassen kann, gegen das, was von den Menschen kommt und doch nicht von einem einzelnen, dem man an die Gurgel fahren kann.
Und so tut er nun etwas, der Lemming, das er Sekunden später schon bereuen wird. Er kann nicht anders, er muss es einfach tun, um nicht auf der Stelle vor Zorn zu zerplatzen. Mit wüstem Kampfgebrüll holt er aus und schleudert dem Feind das Geschoss entgegen – die einzige Waffe, die gerade greifbar ist.
    Das Handy steigt hoch, verharrt in der Luft und nähert sich wieder der Erde. Keine fünf Meter entfernt zerschellt es auf dem Straßenpflaster. Der Klang seines Aufpralls ist nur zu erahnen; er wird vom Getöse der wirbelnden Rotorblätter verschluckt. Im selben Moment schwenkt der Helikopter zur Seite und verschwindet in östlicher Richtung.
    «Ha!», schreit der Lemming und schüttelt die Fäuste zum Himmel. «Ha   …», fügt er etwas leiser hinzu. Dann senkt er langsam den Kopf. Klaras Mobiltelefon, das wird ihm soeben bewusst, liegt draußen in Ottakring. Die Funkwellen, die Strahlung: Als werdende Mutter kann man nicht achtsam genug sein   …
    «Komm, Poldi   …» Klara ist an seine Seite getreten; sie streicht ihm begütigend über den Rücken. «Komm schon, lass uns zum Taxistand gehen.»
     
    Vierzig Minuten und acht Wehen später stehen sie vor der verheißungsvollen gelben Tafel des Standplatzes in der Porzellangasse. Ruhig ist es hier. Eine Taube stelzt gurrend den Rinnstein entlang und sucht nach verlorenen Körnern. Autos, geschweige denn Taxis, sind keine zu sehen.
    «Hast du Kleingeld?» Klara zeigt zur anderen Straßenseite, wo – gleich neben der Einmündung in die Servitengasse – ein Telefonhäuschen steht.
    Der Lemming kramt in seinen Taschen und schüttelt betreten den Kopf. Er zieht sein Portemonnaie heraus und klappt es auf. «Nur einen Fünfziger.» Ein Königreich für ein Pferd, denkt er im Stillen, zehn Cent für ein Baby   …
    «Und was sollen wir jetzt tun?», murmelt Klara.
    «Also   … Wir   … Wir machen Folgendes: Ich lauf hinüber in die Wohnung und ruf uns vom Festnetz ein Taxi – nein, besser gleich einen Krankenwagen. Und du   … Du wartest hier, es dauert nicht lange   …»
    «Ich muss aber   … sitzen.» Klara wird blass und schnappt nach Luft, aufs Neue von einer Welle des Schmerzes erfasst. «Ich komm   … dir nach, so gut ich kann. Vor der Kirche   … gibt’s Bänke.»
    Der Lemming stürmt los, er hastet über die Kreuzung und biegt in die Servitengasse ein. Keine zehn Sekunden später erreicht er sein Haus am Rande des trauten, von Bäumen umgebenen Kirchenplatzes. Im dritten Stock des zartgelben Hauses ist seine Wohnung, im Vorraum der Wohnung sein treuer, altgedienter Fernsprechapparat   …
    «Komm schon!» Fieberhaft sucht er den passenden Schlüssel am Bund, rammt ihn ins Schloss und stößt das Haustor auf. An Säcken voll Schutt und Stapeln von Brettern entlang läuft er durchs Vorhaus zum Lift.
    «Das gibt’s ja nicht   …»
    Da ist kein Aufzug mehr. Ein leerer Schacht gähnt ihn an, notdürftig vernagelt mit hölzernen Planken und Plastikplanen. «Die Schweine   … Die miesen   … Die dreckigen Schweine», stößt der Lemming hervor, während er – immer zwei Stufen auf einmal – die Treppe hinaufkeucht.
    Zweieinhalb Jahre dauert der Terror nun an, der sich
Dachausbau
nennt. Zweieinhalb Jahre, in deren Verlauf das Wort
Wohnen
zu einer zynischen Karikatur seiner selbst verkommen ist. Wie viele ungezählte Male hat ihn der Lärm aus dem Schlaf gerissen, ihn vom Lesen, vom Essen, vom Denken, vom Sein abgehalten? Wie oft hat er sich auf die Straße geflüchtet, bei jeglichem Wetter aus seinen vier Wänden verjagt wie ein Hund? Einen Winter lang ist er beinahe erstickt – die Arbeiter hatten Gerüste errichtet und alle Fenster luftdicht mit Kunststoff verklebt   –, im Sommer darauf beinahe ertrunken – man hatte die Dachhaut entfernt, obwohl die Meteorologen Regen vorhergesagt hatten. Der einzige Grund für die meisten der Wohnparteien, die Stellung zu halten, ist ein Aushang der Hausverwaltung: Der Bauherr und Eigentümer, der das Gebäude vor drei Jahren gekauft hat, sei bereit, für die Instandsetzung der Steigleitungen aufzukommen, so heißt es darin.
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