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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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wehenden Schößen huscht sie nach links um die Ecke.
    Der Lemming bleibt fassungslos stehen.
    «Du   … Du   … beschissene Nonnensau! Du   …»
    So verlassen die Rossau an diesem Ersten Mai auch sein mag, gottverlassen ist sie nicht: Gleich einer himmlische Drohung beginnen im Kirchturm die Glocken zu läuten; ihr gellender, blecherner Klang verschluckt die Flüche des Lemming. Auch Klara scheint jetzt zu schreien, mit offenem Mund und zusammengekniffenen Lidern kniet sie neben der Parkbank, die Finger in das Holz der Sitzfläche gekrallt. Der Lemming eilt zu ihr und ringt die Hände. Er kann nicht helfen, kann nichts tun, war nie zuvor so niedergeschmettert und aufgewühlt.
    Minutenlang schallt das Geläute über den Platz, dann kommen die Glocken langsam zur Ruhe, klingen aus, hallen nach und verstummen endlich vollends.
    «Kommen Sie! Schnell!»
    Eine Hand auf der Schulter des Lemming. Er zuckt zusammen, wirbelt herum und sieht – kaum kann er es glauben – das Gesicht einer Frau vor sich. Mitte dreißig mag sie sein, auch wenn ihre Augen um einiges älter wirken: Ein fester, entschlossener Blick, gebettet in traurige Falten. Graue Strähnen ziehen sich durch ihr fuchsrotes, halblanges Haar, das von zwei Spangen hinter den Ohren gehalten wird.
    «Na kommen Sie schon!»
    «Ja aber   … Wohin denn?»
    «Hauptsache weg von der Straße. Am besten   … dort hinein.» Sie deutet zur breiten Fassade gleich neben der Kirche, hinter der sich der Hof des Servitenordens befindet. «Was ist jetzt? Worauf warten Sie?»
    Während Klara – auf den Lemming und die unbekannte Frau gestützt – dem hölzernen Tor entgegenwankt, huscht ein flüchtiges Lächeln über ihren Mund. «Ausgerechnet   …», seufzt sie leise. «Ausgerechnet ins Kloster   …»

2
    Hurtig durchquert er den Kreuzgang, mit Schritten, gerade so lang, wie seine enge Soutane es zulässt. In seinen Händen trägt er die Banner der Güte und Herzlichkeit, leuchtend und weiß; meterweit flattern die Flaggen hinter ihm her.
    Pater Pius hat in der Eile nichts Besseres gefunden. «Ein weiches, sauberes Tuch, wenn Sie hätten», hat die fuchsrote Frau zu ihm gesagt, «zum Aufbreiten, und nachher dann zum Einwickeln. Wir wollen ja nicht, dass das Butzerl friert auf dem kalten Steinboden.» Also ist der Pater kurz entschlossen zur Toilette neben dem Refektorium gelaufen, um zwei Klosettpapierrollen zu holen. Ein wenig mitgenommen hat ihn die vergangene Viertelstunde schon, den guten alten Pius: Die gepressten Schreie der Gebärenden haben seine Nerven strapaziert, unheimlich, beinahe tierisch sind sie durch die Gänge des Klosters gehallt. Schauriger ist nur die Stille, die jetzt – ganz plötzlich – über dem Hof und den Arkaden liegt.
    Halb neun war es, als ihn der ungewohnte Radau aus dem Gebet gerissen hat. Ein weibliches Wimmern und Stöhnen, dazwischen die sonoren Hilferufe eines Mannes. Manchmal, das weiß er genau, ist es dem Herrgott ganz recht, wenn man ihn warten lässt. Beten kann man auch später, helfen womöglich nicht mehr. Also hat der Pater seine Kammer im ersten Stock verlassen, um Nachschau zu halten.
    Im hintersten Winkel des sonnendurchfluteten Hofs, im Schatten des offenen Bogengangs hat er sie dann gefunden, die beiden Frauen und den Mann. Unter der großen Vitrine des heiligen Peregrin ist die zur Hälfte entkleidete Schwangere gehockt, zu ihren Füßen, in einer Lache aus blutigem Schleim, kniete die Rothaarige. Nur der Mann ist – regelrecht hysterisch – hin und her gelaufen, um, sobald er den Pater bemerkte, händeringend auf ihn zuzustürzen.
    «Pater Pius! Gott sei Dank!»
    «Moment einmal   … Ich kenn dich doch», hat Pius gemurmeltund nachgedacht. «Du bist doch der   … Leopold! Der kleine Leopold Wallisch! Stimmt’s?»
    Legendär ist das Gedächtnis des beinahe achtzigjährigen Ordensbruders, und er hat gerade bewiesen, dass Legenden keine Ammenmärchen sind. Sechs Jahre alt war der Lemming, als sich der Pater erstmals seiner angenommen hat – im obligatorischen Religionsunterricht, der den kleinen Besuchern der Volksschule in der Grünentorgasse zuteil wurde. Ein stiller, herzensguter Mann, das ist der schmächtige Pius schon damals gewesen: Grund genug für den Lemming, Freundschaft mit der christlichen Kirche zu schließen. Nicht Grund genug allerdings, diese Freundschaft auch beizubehalten: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein Heiliger noch keinen Himmel. Mochte es im Schoß der Kirche auch
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