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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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WIE ALLES BEGANN
     
    »Wie viele Lesungen haben Sie denn bisher gehalten?«, fragte mich eines Abends nach einer Veranstaltung eine Journalistin. Ich war überrascht und hatte keine genaue Antwort parat. Aber meine Steuerberaterin, deren Dienste ich seit Jahrzehnten in Anspruch nehme, teilte mir auf meine Anfrage hin mit, dass ich in den vergangenen dreißig Jahren genau 2321 Lesungen absolviert habe und dazu 362.723 Kilometer gefahren war. Das heißt, vereinfacht, aber poetisch formuliert: In all den Jahren bin ich neunmal erzählend um die Erde gefahren.
    In der Ruhe, die sich nach einer langen Tournee einstellt, fand ich nun eine Oase, um mir ein paar Gedanken über meinen Weg zu machen.
     
    Mit Sicherheit hat meine Entscheidung, Erzähler zu werden, mit meiner Kindheit zu tun. Aber was genau meinen wir mit Kindheit? Wenn man Leute danach fragt, erzählen sie von einem bestimmten Zeitabschnitt ihres Lebens und nicht selten von einem genau definierten Ort. Aber Kindheit ist mehr als Ort und Zeit. Sie ist ein Gefühl, eine Lebenseinstellung. Sie ist ein Spiel und eine Philosophie. Kindheit, das sind Träume, Geschehnisse und Geschichten, die uns prägten und prägen.
    Wenn all das Kindheit heißt, und es ist bei Gott noch nicht alles, so hat mich meine Kindheit zum Erzähler gemacht. Und diese Kindheit muss so starken Einfluss gehabt haben, dass sie alle Vernunft besiegen und mich dazu bringen konnte, Damaskus, die schönste Stadt der Welt, zu verlassen, und nicht nur das. Sie ließ mich später fast kaltblütig eine wahnsinnige Entscheidung gegen meine Erziehung treffen: Ich gab einen sicheren, hochdotierten Beruf als Chemiker bei einem Weltkonzern auf und ergriff den unsicheren Beruf eines Erzählers in einer fremden Sprache. Heute, wiederum viele Jahre später, zittere ich, wenn ich daran denke, wie leichtsinnig die Entscheidung damals war. Aber heute weiß ich auch, dass ich niemals in meinem Berufsleben eine bessere Entscheidung getroffen habe.
    Meine lange Reise als Erzähler führte mich, wie bereits gesagt, neunmal um die Erde. Sie begann aber mit einem kleinen Schritt an einem Frühlingstag im Jahre 1953. Ich war damals sieben Jahre alt und begleitete meinen Großvater durch die Altstadt. An jenem Tag erlebte ich etwas, das ich erst über fünfundfünfzig Jahre später als den Anfang meines Weges verstehen sollte.

DIE FRAU, DIE IHREN MANN
AUF DEM FLOHMARKT VERKAUFTE
     
»Das, wobei unsere Berechnungen versagen, nennen wir Zufall.«
    Albert Einstein
     
»Zufall ist vielleicht das Pseudonym Gottes,wenn er nicht unterschreiben will.«
    Anatole France
     
    Mein Großvater väterlicherseits war witzig, großzügig und immer für ein Abenteuer bereit.
    Er lebte in Malula, einem christlichen Dorf in den Bergen. Wenn er uns in Damaskus besuchte, kam er oft alleine, da seine Frau, meine Großmutter, uns nicht mochte. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Wir waren die Brut ihrer verhassten Feindin, meiner Mutter, die mit ihren schönen Augen meinen Vater verführt hatte. Der Plan der Großmutter, ihren Sohn mit seiner reichen Cousine zu verheiraten, scheiterte an dieser hübschen, aber bettelarmen jungen Frau, die später meine Mutter werden sollte.
    Das Allerschlimmste für meine Großmutter aber kommt erst noch: Es war die Zunge meiner Mutter, mit der sie zehn Frauen vom Kaliber meiner Großmutter an die Wand stellen konnte. Großmutter lästerte, meine Mutter habe ihre Zunge vom Teufel geliehen.
    Für meinen Großvater war dieselbe Zunge ein Garten voller Lachen, voller Gerüchte und Anekdoten, wie er sich einmal ausdrückte. Er selbst war schüchtern, und seinLeben lang bewunderte er die Schlagfertigkeit meiner Mutter.
    Ich wunderte mich immer, wie er es mit seiner Frau aushielt. Einmal fragte ich ihn, warum er nicht zu uns ziehe. Da lachte er: »Deine Großmutter kann nicht einschlafen, wenn sie ihre Hände und Füße, die immer eiskalt sind, nicht bei mir deponiert hat. Und ich bin ein Ofen.«
    Und als er abends seinen Rotwein genoss, sah er zu mir herüber und sagte nur: »Heizöl.« Keiner außer mir verstand ihn. Ich verschluckte mich vor Lachen, und mein Vater bekam ein rotes Gesicht, wie immer, wenn er mit seinem Vater schimpfen wollte und nicht durfte.
    Wenn Großvater bei uns übernachtete, bestand er darauf, auf einer Matratze im Kinderzimmer zu schlafen. Er lehnte das herrliche Gästebett ab, das ihm mein Vater anbot. In jenen Nächten konnten wir, meine zwei Brüder und ich, kaum schlafen. Wir
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