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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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Klangteppich aus Stimmen, Geräuschen, Musik und der Stille der Morgendämmerung, die ich als Kurzschläfer seit meiner Jugend genieße.
    Der Klang der Stadt Damaskus veränderte sich einerseits mit der Zeit und andererseits mit seiner räumlichen Ausdehnung – von Gasse zu Gasse, von Straßenecke zu Straßenecke, von Viertel zu Viertel. Als Jugendlicher besaß ich ein Fahrrad, mit dem ich alle Viertel der Altstadt auf eigene Faust erkundete. Ich war neugierig, wie die Gassen aussahen, wie sie sich anhörten, wie sie dufteten.
    In manchen Gassen lagerten die Händler Zimt, Koriander, Sesam, Thymian und Süßholz. In anderen Gassen standen kleine Fabriken, in denen Pistazien geröstet, Sesam und Oliven gepresst und vor allem Süßigkeiten hergestellt wurden.
    In unserer Gasse im Osten der Altstadt etwa, mitten im christlichen Viertel, waren mehr Kirchenglocken als Muezzinrufe zu hören. Sie duftete sommers wie winters stark nach Anis, weil es hier ein großes Anislager gab, von dem aus landes- und weltweit Handel betrieben wurde. Ein alter Mann mit O-Beinen verbrachte den ganzen Tag damit, Anis zu sieben und in große Säcke zu füllen. Er war seit seinem zehnten Lebensjahr beim Anishändler angestellt. Von Jahr zu Jahr wurde der Mann kleiner, und er sah grüngrau wie die Aniskörner aus, wenn er bei Sonnenuntergang nach Hause ging. Mit der Zeit sah er auch grüngrau aus, wenn er am Morgen kam. Und er wurde immer kleiner, bis er eines Tages verschwand. Mein Großvater erzählte mir, der Mann wurde so klein, dass er selbst durch das Sieb fiel, in einen Sack verpackt und ins Ausland verschickt wurde.
    Es dauerte Jahre, bis ich mit Sicherheit sagen konnte, ich kenne jede Gasse und jeden Winkel der Stadt. Von dem Zeitpunkt an war ich in sie vernarrt, ohne es jedoch zu merken. Und hätte sich irgendein verrückter Professor dafür interessiert, ich hätte ihm eine kuriose Klang- und Duftkarte der Stadt gezeichnet.
    Ich war natürlich nicht überall gerne gesehen. Das konnte ich auch nicht erwarten, denn in meiner Gasse sahen wir auch nicht jeden Fremden gerne. Aber ich kam – nicht selten mit Schrammen und Beulen – immer davon, weil eine feine Antenne in meinem Innern mir die Gefahr im voraus anzeigte und ich rechtzeitig die Flucht ergreifen konnte. Gläubige Menschen wie meine Mutter sprachen eher von einem Schutzengel, und da ich unbelehrbar blieb, sagte sie eines Tages in ihrer unnachahmlichen Art: »Ich werde sonntags eine Kerze mehr für die heilige Maria anzünden, damit sie dich vor allem Übel und den armen Schutzengel vor einem Herzinfarkt schützt. Du wirst sehen, die heilige Maria macht das schon. Sie war eine tapfere Mutter.«
    Der Klang veränderte sich im Lauf der Jahreszeiten, aber auch im Lauf eines Tages. Am frühen Morgen hörte ich bereits als Kind gerne das leise Meckern der Damaszener Ziegen, einer besonders ruhigen Rasse mit glatten rotbraunen Haaren, deren Milch nach wilden Kräutern schmeckte. Die Milchverkäufer zogen von Gasse zu Gasse, und wir standen mit unseren Schüsseln an den Türen und erwarteten sie schon.
    Ein wenig später mischte sich der Lärm der spielenden Kinder mit dem Dröhnen des Verkehrs, den Rufen der Bettler, dem Lachen aus der Nachbarschaft, dem Gesang aus den Radios, die voll aufgedreht wurden, und dem Singsang der Straßenverkäufer, die die Hausfrauen aus der Tiefe ihrer Häuser lockten. Nicht selten übertrieben die Händler maßlos. Aus ihren Tomaten wurden Schönheiten, und aus einfachen Feigen wurden Honigdepots, um deren Süße die Bienen sie beneideten. Einfaches Gemüse wurde zu einem melodischen, witzigen Gedicht. Die Straßenverkäufer in Damaskus besingen ihre Produkte so, als wären Tomaten, Kartoffeln, Aprikosen oder Thymian kein Gemüse, Obst oder Kräuter, sondern Juwelen, Gaben des Himmels. Manchmal singen sie mit geradezu religiöser Inbrunst und oft witzig. Wer soll nicht lächeln, wenn er hört, dass die Tomaten sich mit Rouge die Wangen schminken, bevor sie mit dem Verkäufer spazieren gehen. Wer wird nicht neugierig, wenn er hört, dass Estragon Verräter genannt wird?
    Gegen Mittag ebbten die Stimmen ab, denn dann genossen die Damaszener ihre Siesta, und abends klang Damaskus bunt geschwätzig, aber sehr friedlich.
    Einzelne Stimmen von Nachbarn waren zu hören, so die unverwechselbare Stimme des Kutschers Salim, der mir als erster erzählt hatte, dass sich hinter jeder unscheinbaren Damaszener Tür 1001 Geschichten verbargen. »Wer all die
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