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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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hat. Sie half seinem Volk, immer wieder stolz auf seine Werte zu sein, gegen die Demütigungen durch die Mehrheit, sich aufzurichten, zu seiner Menschlichkeit zu finden. »Unseren ethnisch-kulturellen Zusammenhalt verdanken wir allein der mündlichen Überlieferung«, sagt er. Als wäre er ein Araber, als wäre er ein Deutscher.

GROSSVATERS BRILLE
     
    Großvater las sein Leben lang immer wieder ein einziges Buch: die Bibel. Er las langsam, sehr langsam. Sein Bild prägte sich unauslöschlich in meinem Gedächtnis ein, gebeugt über das große Buch, den letzten Strahlen der untergehenden Sonne noch etwas Leselicht stehlend. Bei künstlichem Licht wollte er nie lesen.
    Und wenn man ihn fragte, was er sich wünsche, so antwortete er: »Dass es im Himmel eine gute Ausgabe der Bibel gibt.« Dort würde er dann unter einem Baum sitzen und Tag und Nacht lesen, denn im Himmel ging nach seiner Vorstellung die Sonne nie unter.
    Mit den Jahren wurden seine Augen schwach, und er besorgte sich eine Brille vom Krämer am Ende unserer Gasse. Damals gab es weder Optiker noch Augenärzte. Man ging zum Krämer. Dort hingen alle möglichen Brillen, und man probierte so lange, bis man die geeignete fand.
    Großvaters Brille veränderte sein Gesicht. Er sah nicht mehr gütig und klug aus, sondern steif, ängstlich und immer erstaunt. Als ich das meiner Großmutter sagte, lachte sie fast hämisch, »Ja, er ist manchmal steif vor Angst, und staunen tut er schon seit seiner Geburt.«
    Eines Tages starb der Großvater. Ich war mit meiner Mutter drei Tage verreist, und als wir zurückkamen, lag er im Wohnzimmer und war nur noch steif. Ich trauerte lange um ihn. Er war – in meinen Augen – der beste Großvater der Welt gewesen.
    Zwei Wochen später entdeckte ich seine Brille. Sie laghinter der Bibel im Bücherregal meines Vaters. Damals las ich, wann ich immer konnte, heimlich ein Buch. Vater hatte behauptet, genau dieses sei nichts für Kinder, und damit die unauslöschliche Flamme meiner Neugier entfacht. Zugegeben, es war ein Buch der großen Prozesse der Geschichte, die immer mit Hinrichtung endeten, so wie bei der französischen Königin Marie Antoinette und Marats Mörderin Charlotte Corday. Ich las darin über Suleiman Al Halabi, den kurdischen Syrer, der von Aleppo nach Kairo ging, um General Kléber, Napoleons Stellvertreter, umzubringen. Jean-Baptiste Kléber war ein Abenteurer aus Straßburg. Er wurde nach dem Attentat verhaftet, bestialisch gefoltert und gepfählt. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich wollte nur kurz erzählen, dass ich immer diesen dicken Band aus dem Bücherregal herausnahm, darin las und ihn sorgfältig zurückstellte, damit mein Vater nichts merkte. Er legte immer eine Vogelfeder so raffiniert ins Regal, dass sie nach hinten fiel, wenn man das Buch bewegte. Ich erkannte den Trick und lachte mich kaputt, wenn ich aus der Ferne meinen Vater beobachtete, wie er seine Falle überprüfte, bevor er beruhigt das dicke Buch herausnahm. Er las, wenn nicht die Bibel, auch oft in diesem Buch.
    Wie gesagt, eines Tages entdeckte ich die Brille im Bücherregal. Ich eilte mit der Brille zu meiner Großmutter, die, aus welchen Gründen auch immer, seit dem Tod des Großvaters uns oft besuchte. Meine Mutter schien das Kriegsbeil auch begraben zu haben, aber wie ich meine Mutter kenne, lag dessen Grab in Reichweite, für den Fall eines Falles. Immer öfter übernachtete die Großmutter bei uns, wenn sie Doktor Sujufi, ihren Hausarzt, aufsuchen musste. Deshalb richtete meine Mutter das Gästezimmer für sie ein.
    »Oma«, sagte ich außer Atem, »Großvater kann im Himmel nicht mehr lesen.«
    Die Großmutter schaute mich einen Augenblick lang etwas verwirrt an. »Er soll erst einmal den Himmel kennenlernen, und wenn ich ihm bald folge, nehme ich ihm die Brille mit.«
    Die Tage vergingen, und ich bewahrte die Brille sorgfältig auf. Ab und zu setzte ich sie auf und schaute mich im Spiegel an. Ich sah auch erstaunt, steif und ängstlich aus, obwohl ich mich bemühte, einen bösen, unerschrockenen Blick aufzusetzen.
    Ein halbes Jahr später erkrankte Großmutter schwer, und als ich meine Mutter beim Mittagessen zu meinem Onkel sagen hörte, sie fürchte, die Oma werde dem Opa sehr bald folgen, atmete ich erleichtert auf. Ich lief in mein Zimmer, holte die Brille und ging zur Großmutter, die seit Wochen in unserem Gästezimmer untergebracht war. Sie lag blass und eingeschrumpft im Bett.
    »Vergiss die Brille nicht«, sagte
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