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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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die wir heute kennen.
    Und da du hier im Rahmen einer Brüder-Grimm-Professur den Vortrag hältst, ist es zum einen vielleicht passend, an die großartigen Brüder Grimm zu erinnern und an ihr Verdienst um die deutsche Sprache und um das mündliche Erzählgut, das sie von Erzählerinnen und Erzählern hörten und niederschrieben. Geradezu notwendig ist es aber zum anderen, daran zu erinnern, dass die Romantiker insgesamt diejenigen waren, die die Wichtigkeit der mündlichen Traditionen erkannten: James Mac Virsen ( 1736 – 1797 ) in Schottland, Thomas Persi ( 1729 – 1811 ) in England, die Brüder Jacob ( 1785 – 1865 ) und Wilhelm ( 1786 – 1859 ) Grimm in Deutschland, Francis James Child ( 1825 – 1869 ) in den USA .
    Du hast uns gerade reichlich von dem Zauber des mündlichen Erzählens berichtet. Doch andererseits gehört es zu den Eigenschaften des Mündlichen, dass seine Spuren fein sind und schnell verschwinden können. Das Gesprochene von mehreren Jahrhunderten lässt sich im Nachhinein kaum mehr überprüfen. Ist das Wort schriftlich festgehalten, so kann man es auch nach Jahrhunderten genau überprüfen, kommentieren, korrigieren. Die Schrift friert das Wort ein und macht es endgültig. Das mündlich gesprochene Wort wirkt vielleicht im Augenblick sehr intensiv, aber es stirbt auch im Moment seiner Geburt. Die Schrift macht das Wort zeitlos, unsterblich wie die Götter, wie die Pyramiden.
    Das mündliche Erzählen braucht mindestens zwei Menschen, um überhaupt zu existieren. Der Erzähler allein genügt nicht. Seine gesprochenen Worte sind so lange noch keine Erzählung, bis eine oder besser mehrere Personen sie hört(en). Und auch das reicht noch nicht aus, um einer Erzählung ein zeitliches Überleben zu garantieren. Denn selbst wenn die Zuhörer die Geschichte, die Lehre oder die Philosophie, die sie gehört haben, verstehen, so sollen sie sie zudem im Gedächtnis behalten können. Das ist die wichtigste Voraussetzung für das Überleben einer Geschichte, einer Weisheit oder einer religiösen, philosophischen oder politischen Lehre.
    Der Erzähler muss also eine geeignete Form finden, damit die Zuhörer das meiste auch behalten. Über die Jahrtausende hat sich ein gewisses Vorratslager an Elementen angesammelt, die man beachtet, wenn man eine Rede halten will, sei es die Metapher, die Anspielung oder die Belebung durch Übertreibungen, seien es Umschreibungen, rhetorische Fragen, Verneinungen, nur um damit nachdrücklich zu bejahen, Wortreihen mit »und« (bis der erste Tag der Schöpfung zu Ende ist, sind es neun) oder ohne ein einziges »und« wie bei Julius Cäsars »veni, vidi, vici«. Es gibt mehr als genug Maßnahmen, die man treffen kann, um seine Rede an die Menschen zu bringen. Generell sind kurze Sätze besser als verschachtelte lange. Daher ist im mündlichen Erzählen die Ellipse sehr beliebt (z. B. »Was nun?«, »Mir nichts, dir nichts«).
    Auch das später im Schriftlichen verpönte Adjektiv war im Mündlichen notwendig, um die Erinnerung zu unterstützen (das Bild kleines, verfallenes Haus bleibt länger im Gedächtnis als das nackte Wort Haus ). Eines der wichtigsten Elemente und eine einprägsame Stütze einer Rede sind Wiederholungen von Wörtern und ganzen Sätzen. Manche Wiederholung tritt wie eine Schleife immer wieder auf. Der Erzähler setzt sie ein, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu erfrischen, um den Zuhörern eine Gedächtnisstütze zu geben. Denn sie können ja nicht zurückblättern und haben vielleicht einiges inzwischen vergessen, was für die kommende Handlung wichtig ist. Indem man wichtige Elemente immer wieder nach vorne holt, treibt man die Geschichte voran. Solche Schleifen helfen zudem bei schlechter Akustik und auch, wenn Zuhörer verspätet dazukommen. Damit sie nicht auf der Strecke bleiben, bekommen sie mit diesen Schleifen einen Faden in die Hand und können das Geschehen nun mitverfolgen. Es hilft den Zuhörern, die ja keinen Notizblock haben, auch, wenn die Erzählung lebensnah bleibt und nicht allzu abstrakt wird.
    Das Schreiben neigt hingegen zur Kürze, weil es von Anfang an mit Handarbeit verbunden war und viel langsamer als das Sprechen ist (man schätzt seine Geschwindigkeit auf ein Zehntel der Geschwindigkeit des mündlichen Erzählens). Daher die berechtigte Abneigung gegen all das »Füllmaterial«, ohne das mündliches Erzählen wiederum nicht leben kann.
    Das Erzählen verlangt ein gutes Gedächtnis, und die herausragenden Erzähler
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