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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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waren früher hochangesehen. Man verglich sie respektvoll mit lebenden Bibliotheken. Starb ein Erzähler, so ging, wie beim Brand einer ganzen Bibliothek, unendlich viel verloren. Die Schrift aber hat die Erzähler entmachtet, denn sie holte das Wissen aufs Papier. Es blieb nicht einigen wenigen vorbehalten, sondern wurde in einem demokratischen Prozess für die ganze Gesellschaft zugänglich.
    Schon gut, Ibn Aristo. Ich muss langsam zum Schluss meiner Rede kommen und ein paar Worte über Erfindung von Geschichten in unserer Zeit sagen.
    Man sagt, Geschichten seien ein Produkt der menschlichen Gattung. Das ist richtig. Tiere können keine Geschichten erzählen. Doch man darf das Geschehen, den Prozess, nicht zu sehr versimpeln, als würde man erstens handeln, zweitens sein Handeln reflektieren und drittens daraus im Kopf eine Geschichte darüber formen oder entstehen lassen. Als wären unsere Gedanken immer neugeboren, frei von der Vergangenheit, und als entstünden sie gerade bei und nach dem Handeln. Dabei bliebe ja der Anteil an vergangenen Geschichten unberücksichtigt, die unsere Wahrnehmung beeinflussen und damit die Entstehung von Gedanken und Geschichten mitgestalten. Und das Bild ist sogar noch komplizierter. Nicht nur in unseren Geschichten, sondern auch in unserem Handeln stecken viele vergangene Geschichten. Unzählige Geschichten aus der Bibel, aus guten und schlechten Filmen, Romanen, Sprichwörtern, Ratschlägen, die wiederum Extrakte vorheriger Geschichten sein können. Oscar Wilde bringt es auf den Punkt, wenn er (in »Der Verfall der Lüge«) meint: »Das Leben ahmt die Kunst weit mehr nach als die Kunst das Leben.«
IBN ARISTO UNTERBRICHT, UM EINEN SPRUCH LOSZUWERDEN
    Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass seit Ewigkeit besteht: Geschichten, die gegen die Zeit bestehen wollen, müssen immer ein Stück Zukunft in sich tragen, auch wenn sie von Vergangenem erzählen.
    Das ist auch meine Erfahrung, Herr Ibn Aristo, die ich durch Beobachtung gebildet habe. Nun aber leben wir in einer Zeit, in der die Technik sowohl die Schrift als auch den Mund behindert. Die Elektronik und die weltweite Vernetzung macht es uns leicht, in wenigen Sekunden Termine, Grüße, Proteste, Fragen und Antworten, Trauer und Freude auszudrücken. Kaum jemand schreibt Briefe, die Telefonzellen verschwinden, weil fast jeder sein Handy hat. Ich schreibe manchmal 15 E-Mails an einem Tag. Die Adressaten sind in den USA, Europa, Asien und Afrika und bekommen nicht selten am selben Tag eine Antwort. Vor zehn Jahren wäre das unvorstellbar gewesen. Aber was sind das für Briefe? Es sind sehr effektive Mitteilungen. Bislang habe ich noch keine SMS, »Short Message Service«, geschrieben – die Generation meines Sohnes schreibt bis zu 20 pro Tag. In der Bundesrepublik schätzt man die Zahl der SMS auf jährlich 10 bis 15 Milliarden.
    Die Sprache steht nicht selten unter dem Druck der Eile und der begrenzten Technik und wird bis zur Unkenntlichkeit verhunzt. »Zumiozudi« bedeutet: zu mir oder zu dir, und auf Deutsch: Wollen wir (heute/morgen/später) zu mir oder zu dir gehen?
    Es gibt gute Untersuchungen über diese neue Kommunikation. Was mich interessiert, ist der radikale Einbruch der Sprache, der nicht nur in der SMS zum Vorschein kommt, sondern ein Merkmal unserer Zeit ist. Und es wirkt altmodisch, wenn ich betone, dass Denken ja mittels Wörtern formuliert wird und daher bei dieser Reduzierung der Sprache nicht ohne Schaden bleiben wird. Nicht von heute auf morgen, aber langfristig sind negative Folgen abzusehen.
    Dagegen muss die mündliche Erzählkunst etwas tun, um das verlorene Terrain wieder zurückzuerobern. Sie kann Kinder und Erwachsene genussvoll darauf aufmerksam machen, wie schön die Sprache ist – und muss dabei nicht moralisieren. Wir wissen, dass Demokratie für ihr Bestehen mündige Bürger braucht. Das ist keine poetische Übertreibung. Laut Verfassung sind die Bürger der Souverän des Staates. Und sie werden umso kritischer sein, je besser sie zu hören, zu sprechen und damit ihre Gedanken auszudrücken wissen. Sprechen ermöglicht Solidarität und Widerstand gegen Machtmissbrauch. Auf Dauer verliert der schweigsame Bürger seine Mündigkeit.
    Nun, fast parallel zum Einzug der Digitalisierung der Schrift ist aber etwas Merkwürdiges passiert. Das Zuhören kehrte zurück. Ein Zeichen dafür ist der Boom der Hörbücher, der vor dreißig Jahren undenkbar gewesen wäre. Rezitatoren, Kabarettisten, Comedians und
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