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Die Obelisken von Hegira

Die Obelisken von Hegira

Titel: Die Obelisken von Hegira
Autoren: Greg Bear
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    Der General der Ibisier bedeutete seinen Beratern mit einem Wink, auf den Balkon hinauszutreten. „Seht genau hin“, forderte er sie auf, als sie sich neben dem mediwewanischen Deputierten an der Brüstung aufreihten. „Ein prächtiges Beispiel für Barbarentum.“
    Unterhalb des Balkons wälzte sich ein endloser Zug von Pönitenten durch die regenglatten Straßen.
    „Das sind Asketen aus Monta Ignazio, General Sulay“, stotterte der Deputierte. Seine Zähne schlugen aufeinander. Nie war er Wilden näher gewesen als in diesem Augenblick.
    Hinter ihnen im Raum zischten die Sumpfgas-Laternen.
    „Sie peitschen sich“, sagte Bar-Woten. Er war ein hagerer, aber muskulöser Mann Mitte Dreißig mit einem grauen Auge und einer schwarzen Augenklappe. Seine Nase krümmte sich zu einem scharfen Haken vor.
    Die Pönitenten waren für diesen nächtlichen Marsch durch Mediwewas Hauptstadt Madreghb von meilenweit her zusammengeströmt. Männer, Frauen und Kinder, in braune Säcke, schwarzweiße kultische Gewänder oder das Rot von Diakonen und Priestern gehüllt, schwangen lederne Katzen gegen ihre Rücken, deren Schnüre sie je nach Alter und Hingabe zusätzlich beschwert hatten. Unter zerfetzten Kleidern war ihr Fleisch so roh wie Gehacktes.
    „Das ist religiöse Begeisterung!“ schnarrte Sulay. „Das ist der Heisos Kristos von Mediwewa, der von ihnen fordert, sich die Körper mit schwärenden Wunden zu vergiften, um Seine Offenbarungen zu sehen! Nehmt dieses Bild in euch auf und lernt davon. Wir haben viele Völker und ihre Religionen kennengelernt, aber keine war erstaunlicher als diese.“
    Angewidert schaute Bar-Woten eine Weile zu und wandte sich schließlich ab. Sein Blick traf sich mit dem des Deputierten, und er blinzelte dem dürren Regierungsbeauftragten einäugig zu. „Das ist nichts für mich“, erklärte er. „Beim Anblick von Blut wird mir immer so schwach.“ Der Deputierte lachte nervös, fiel dann wieder in seine respektvolle Haltung zurück.
    Sulay trat von der Balkonbrüstung zurück, schüttelte den Kopf und fingerte am Riemen seines Pistolenhalfters herum. „Ich würde jetzt gerne Eure Bibliothek besuchen.“ Der Deputierte nickte und geleitete ihn hinaus. Bar-Woten blieb mit dem Anblick der sich jämmerlich zerhauenden Büßer zurück. Ihr Stöhnen ärgerte ihn wie ein Furunkel unter seinem Kettenhemd. Sie hatten sich mittlerweile in Ekstase hineingesteigert. Die Ekstase der Offenbarung … „Barthel!“ rief er. Sein Diener erschien, grinsend und in erlesene rote Seide gekleidet.
    „Ich glaube, mir könnte es gefallen, hier zu leben“, sagte Barthel, indem er seine Arme spreizte wie ein Pfau. „Es ist herrlich kühl hier, und die Gewänder sind wunderschön.“
    „Was kannst du mir über die Kristen erzählen?“
    „In meinem Land gab’s ein paar davon, Bei. Aber ich für mein Teil gehöre dem momadanischen Glauben an, wie Ihr wißt, und wir vermeiden den Verkehr mit den Ungläubigen. Euch natürlich ausgenommen, Herr, der Ihr erstrahlt wie eine Leuchte …“
    „Licht“, verbesserte Bar-Woten. „Du vernachlässigst deine Lektionen in Mediwewanisch.“ Er hatte Barthel vor fünfzehn Jahren aus einer Gruppe gefangener Kinder ausgewählt, in dem jetzt verwüsteten Land Khem. Die Heerscharen Sulays, unter ihnen Bar-Woten, waren verantwortlich für diese Verwüstung. Aber Barthel zeigte keinerlei Erinnerungen an das Gemetzel. Er wußte nur jene Dinge, die zu wissen von ihm verlangt wurden; alles übrige schien in seinem Gedächtnis unterzugehen wie Wackersteine in einem Tümpel. Er war ein munterer, fröhlicher Bursche.
    „Bei, ich könnte Euch wohl Geschichten erzählen, die meine Mutter mir erzählt hat, aber einige davon sind ganz und gar verrückt. Ihr würdet sie schier nicht glauben. Dieser Heisos Kristos – oder Yesu, wie wir ihn kennen – wird auf all den Obelisken erwähnt, von denen ich je gehört habe, und seine Geschichte ist immer dieselbe.“
    „Was die These erhärtet, daß auf allen Obelisken dieselben Worte eingraviert sind.“
    „Gewiß. Ich glaube, das ist Teil der göttlichen Doktrin Momads, daß, da sein Wort auf allen festgehalten ist, die Gläubigen die darin enthaltene Wahrheit anerkennen müssen und …“
    „Warum schlagen sie sich für diesen Heisos?“
    „Das gibt ihnen Kraft, den Versuchungen dieser Welt zu entsagen, Bei. Indem sie sich selber züchtigen, hoffen sie, ihre Aufmerksamkeit von Hegira wegzulenken und sie auf das Paradies,
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