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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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geplant werden. Der Text muss komplett verinnerlicht werden. Das bedeutet, so lange mit dem Text zu üben, bis einem der Weg durch die Geschichte mit all seinen Stationen und Fallgruben klar ist, bis man sich unter den Protagonisten leichtfüßig bewegen kann. Das ist nicht einfach, aber es ist möglich. Erst dann sind Spontanität, Scherz, Einfall und Schlagabtausch mit witzigen Zuhörern möglich, ohne den Faden zu verlieren. Erst dann ist es möglich, auftretende Schwierigkeiten (Mikrophon-, Licht- oder Stromausfall, Ohnmacht eines Zuhörers, übertriebene, empörte oder begeisterte Reaktionen aus dem Publikum etc.) zu bewältigen und zurück zur Erzählung zu finden.
    5.3.   Die Geschichten können auf drei Weisen, auf drei Wegen erzählt werden.
    5.3.1.   Verschachtelt: d.h. von Punkt 1 zu 2 zu 3 zurück zu 1, dann 4 -5 -6 und dann zu 2 oder 3 etc. Das kann auch komplizierter aufgebaut sein, etwa 1-2-3-1-4-2-5-6-7-3-1-8 etc. So hat Scheherasad, so habe ich meine Romane »Erzähler der Nacht« und »Die dunkle Seite der Liebe« auf meinen Tourneen 1989 bzw. 2004 erzählt.
    5.3.2.   Die Lampion-Brücke. Eine einzige Geschichte mit Zwischenstationen, Lampions, bei denen ich verweile und in die Breite und Tiefe gehe, ganze oder Teilgeschichten erzähle, so wie bei »Poetischer Spaziergang durch Damaskus«, wo ich an mancher Tür, in mancher Gasse, an einem Garten anhalte und Geschichten erzähle, die damit zu tun haben. So auch habe ich »Den Fliegenmelker«, »Damaskus, der Geschmack einer Stadt«, alle Kindergeschichten und »Eine Hand voller Sterne« erzählt.
    5.3.3.   Der Ohrfilm ist als Variante, die ich für manche Romane einsetze, die einen starken filmischen Erzählbogen haben, wie »Der ehrliche Lügner« (Tournee 1992–1994), »Reise zwischen Nacht und Morgen« (1995–1997) und zuletzt »Das Geheimnis des Kalligraphen« (2008–2010). Der Ohrfilm ist wie ein Kinofilm, aber konzipiert für das Ohr. Die Rückblenden sind hier Personen und Ereignisse, die ich im Gedächtnis der Zuhörer immer wieder (mehr am Anfang als am Ende) wie auf einem Schaukelstuhl ausruhen lasse, mit dem Versprechen, sie später an geeigneter Stelle abzuholen, und das tue ich mit Sicherheit, was zur Erheiterung der Zuhörer und zur Steigerung ihrer Konzentration und Aufmerksamkeit führt. Noch nie habe ich meine Zuhörer mit einer einzigen noch schaukelnden Szene im Kopf nach Hause geschickt.
    Sie merken schon, die Verschachtelung ist sehr nahe mit dem ursprünglichen mündlichen Erzählen verwandt, während der Ohrfilm sehr viel mit dem Schriftlichen zu tun hat. Nie aber ist eine Erzählform so rein, wie ich sie hier der Einfachheit halber schildere. Es gibt immer viele Varianten und Mischformen.
    Würde ich hier aufhören, über die Bedingungen des mündlichen Erzählens, über meine Erfahrung der vergangenen dreißig Jahre zu reden, würde ich mir den Vorwurf machen, nicht genau erzählt zu haben. Es sind Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, ohne die ein erfolgreiches mündliches Erzählen unmöglich ist. Mögen meine Leser und Zuhörer auch den Verdacht hegen, die Aufzählung sei übertrieben, ich kann Ihnen versichern, es ist nur die Spitze des Eisbergs.
    1.   Ein Erzähler muss, unabhängig von der Jahreszeit, von seiner psychischen und physischen Gesundheit, so weit akzentfrei erzählen können, dass das Zuhören nicht ermüdet. Eine warme, klare Stimme kommt sicher besser an als eine schwache, krächzende.
    2.   Die mündliche Erzählkunst lebt im Gegensatz zu ihrer schriftlichen Schwester vom zuhörenden Publikum. Der Autor einer Schrift muss weder sein Publikum kennen noch mögen, er muss weder höflich noch gutgelaunt, geschweige denn pünktlich oder frisch sein. Die Schrift setzt weder eine gute Stimme noch ein gutes Gedächtnis voraus. Das alles aber verlangt die mündliche Erzählung. Und nebenbei bemerkt, hier an diesem Punkt werden alle entlarvt, die keine Ahnung von der mündlichen Erzählkultur haben. Sie wissen nichts vom tiefen Respekt, den ein mündlicher Erzähler vor seinem Publikum spürt. Dieser Respekt ist weder ein Erzeugnis des Charmes noch eine schleimige Anbiederung. Er geht zurück auf eine jahrtausendalte Überzeugung, dass das Publikum beim mündlichen Erzählen ein Partner ist, ein gleichberechtigter Partner, ohne den nichts gelingen wird. Und deshalb lache ich gemeinsam mit den Kennern dieser Kunst, wenn meine Feinde mich kritisieren wollen, weil das Publikum mich mag. Sie
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