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Tonio

Tonio

Titel: Tonio
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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1
     
    »Tooooooo-niii-iooooo …!«
     
    Nie habe ich seinen Namen häufiger gerufen als in den knapp vier Monaten seit dem Schwarzen Pfingstsonntag. Wenn ich hinzufüge »mit der ganzen Kraft meiner Stimme«, so meine ich meine innere Stimme, die unendlich lauter klingt und weiter trägt als das, was meine Stimmbänder im Zusammenwirken mit der vibrierenden Luft hervorzubringen imstande sind. Äußerlich ist mir nichts anzusehen.
    Vergleiche das mit Weinen. Ich schäme mich manchmal Mirjam gegenüber, die sich, anders als ich, der Naturgewalt eines plötzlichen Heulkrampfs hinzugeben vermag.
    »Auch wenn du keine Tränen siehst, Minchen, ich weine trotzdem mit dir«, habe ich ihr einmal erklärt (mit erstickter Stimme, immerhin). »Bei mir äußert sich dieser furchtbare Kummer wie eine innere Blutung. Er sickert oder strömt irgendwo in mir.«
2
     
    Zu Beginn von Nabokovs Roman Lolita kostet der Erzähler Silbe um Silbe den Namen seiner Geliebten: »Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.«
    Der Name meines Sohnes beginnt mit einem solchen Antippen der Zungenspitze an die Rückseite der Schneidezähne (T …), wonach sich die Lippen öffnen, um den Vokal o in seiner ganzen Vollheit der Luft preiszugeben. Der restliche Atem bringt mit Hilfe der höher gelegenen Nasenhöhle einen leicht quietschenden Nasallaut hervor (niii …) – kaummehr als eine kurze Unterbrechung im langgedehnten ooo, das nun aus dem nach wie vor geöffneten Mund ungehindert weiterhallt.
    »Tooooooo-niii-iooooo …!«
    Der ideale Rufname, dachten wir – auch im Wortsinn, wenn wir ihn später, ein draußen spielender Junge inzwischen, zum Essen hereinrufen wollten. Das zweite o ließe sich mühelos, anschwellend, bis zum Ende der Straße dehnen, notfalls bis zum Jacob Obrechtplein, wo er eines Tages mit seinen Freunden bei der Synagoge herumhängen würde.
    Als Mirjam schwanger war, kam es uns nicht in den Sinn, mit Hilfe einer Ultraschallaufnahme das Geschlecht des Kindes feststellen zu lassen. Auch ohne Bestätigung durch die Medizintechnik waren wir beide überzeugt, es würde ein Mädchen – warum, weiß ich nicht mehr. Wir wollten es Esmée nennen, nach der Oper, die Theo Loevendie gerade komponierte und über deren Fortschritte er uns regelmäßig im Café Welling auf dem laufenden hielt.
    Ein paar Wochen vor dem errechneten Stichtag kam Mirjam ins Badezimmer, wo ich verkatert in der Wanne lag. Sie stieß die Tür, die einen Spaltbreit offenstand, mit ihrem Spitzbauch ganz auf, und der schien durch die Art und Weise, wie sie beide Hände ins Kreuz stemmte, nur noch weiter vorzustehen.
    »Und wenn es nun ein Junge wird?«
    Mein Kopf schmerzte schon zu heftig, als daß ich ihn mir darüber noch hätte zerbrechen wollen. Seit Monaten lagen überall in der Wohnung Blätter mit Notizen für ein Referat, das Mirjam im Rahmen eines Niederländischseminars schrieb: eine vergleichende Untersuchung von Thomas Manns Novelle Tonio Kröger und dem Roman Geur der droefenis von Alfred Kossmann. Ich brauchte eines dieser Blätter nur von fern zu betrachten, schon sprang mir der Name Tonio Kröger ins Auge. Die ganze Wohnung bis hin zur Küche warübersät mit verschiedenen Ausgaben von Tonio Kröger , deutschen und niederländischen. Mirjam las mir Passagen aus ihrer Arbeit vor. Am Telefon hörte ich sie mit dem Dozenten, mit Kommilitonen darüber diskutieren. Immer wieder dieser vollmundige Name: »… wie es in Tonio Kröger heißt …«
    »Ein Junge«, wiederholte ich, während ich einen schaumigen Arm nach Mirjam ausstreckte. »Der kann dann nur Tonio heißen.«
    Ich bekam einen Klaps auf die Hand, daß die Flocken stoben. »Okay.« Mirjam watschelte wieder aus dem Badezimmer. Offenbar bedurfte es keiner weiteren Diskussion. Wir hielten nach wie vor an Esmée fest, aber jetzt hatten wir wenigstens einen Jungennamen in Reserve, für den undenkbaren Fall, daß .
3
     
    Ein paar Tage nach der Badezimmerszene wurde, rund drei Wochen zu früh, unser Sohn geboren. Als ich vor dem Brutkasten stand, las ich von dem graurosa Pflaster auf seiner schmalen Brust wieder und wieder flüsternd seinen Namen ab, der mir immer besser zu gefallen begann.
    To. Ni. Io.
    Es hatte etwas von einer rollenden, brechenden, weiterrollenden Woge. Ni . Ein Name mit einer überwundenen Verneinung.
    Na schön, es war ein Wagnis gewesen, aber wie sich herausstellte, paßte Tonio perfekt zu ihm. Als die Augen des
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