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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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mögen mich hinter verschlossenen Türen in irgendwelchen Gremien als »populär« bekämpfen, aber sie sind Dilettanten, weil der Respekt vor dem Publikum genauso wichtig ist wie die Stimme und das Gedächtnis des Erzählers. Um es noch plastischer darzustellen: Der Vorwurf meiner Gegner ähnelt dem, einem Ölmaler vorzuwerfen, er male mit Öl. Wer also Scheu oder Verachtung vor einem Publikum empfindet, darf diesen Beruf nicht ergreifen.
    3.   Der mündliche Erzähler darf vor seinem Auftritt weder Alkohol noch Drogen, noch eine übermäßige Mahlzeit zu sich nehmen. Er darf nicht – in meinem Fall unter keinen Umständen – auf Arabisch streiten. Das alles vermindert die Konzentration, und der verinnerlichte Text leidet bei der unmittelbar bevorstehenden Wiedergabe. Bei einem Streit in der Muttersprache vor dem Vortrag in einer spät erlernten Sprache sind die Störungen verheerend.
    4.   Zu große Trauer oder Verliebtheit macht die Wiedergabe fahrig, flatterig, der Inhalt wird irgendwie wiedergegeben, aber die Sprache verliert an poetischer Schönheit und Kraft.
    Da kein Mensch im aseptischen Raum lebt, wird immer ein schlechtes Hotel, ein Stau, eine schlechte Nachricht, ein unvermeidbarer Streit, ein gesundheitlicher Mangel, ein Leichtsinn beim Essen und Trinken oder eine Mischung von all diesen Gewürzen das Gericht des Erzählers etwas verderben. Damit muss man leben, damit kann auch das Publikum leben, wenn die Erzählung stimmt.
    Nun, nach dreißig Jahren und über 2300 Erzählabenden (ein Königreich für einen griffigen Begriff), bin ich geübter, gelassener und vor allem disziplinierter. Und trotz meiner Erfahrung machte es mich vor kurzem sehr nervös, als ich auf dem Weg von Pforzheim nach Schwäbisch Hall eine Autopanne hatte und drei Stunden lang wartete, um einen Leihwagen zu bekommen. Ich kam auf Umwegen eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung an. Das Publikum empfing mich gnädig, freundlich, und nach zehn Minuten vergaß ich Auto und Autobahn.
    Was ich sagen will, bevor ich es vergesse, ist: die mündliche Erzählkunst kann uns viel geben, kann uns ermuntern, die Sprache zu genießen, den Klang der Worte zu schmecken und dem anderen Respekt entgegenzubringen. Man kann sich alles Mögliche ansehen, aber man hört nur dem konzentriert zu, den man respektiert. Das Mündliche kann Welten durchs Ohr genießen, Paradiese für den Augenblick entstehen lassen, sie übers Ohr verinnerlichen. Das Mündliche kann Stimmung erzeugen, die keine Zeile Text für sich genommen erzeugen kann. Erst die Stimme, das Ohr geben den Worten Leben, Zauber.
IBN ARISTO ERKLÄRT, WAS DIE MÜNDLICHKEIT KANN, UND VOR ALLEM, WAS SIE NICHT KANN
    Vielen Dank für den Einblick in deine Werkstatt. Du kannst deine Lobeshymne auf das Publikum bis morgen früh weitersingen. Mir ist die unangenehme Aufgabe zugefallen, dich auf den harten Boden der Fakten zurückzubringen. Jetzt muss ich des Teufels Advokaten spielen.
    Das Mündliche hat seine Schwächen: Es eignet sich in der Regel nicht für die Entwicklung komplizierter wissenschaftlicher, ökonomischer oder philosophischer Abhandlungen und Texte. Ausnahmen gibt es schon, wie die genialen Einstein, Rjasanow und Adorno, die oft komplizierte Inhalte frei gesprochen haben.
    Auch eignet es sich nicht dafür, Debatten mit Pros und Contras, Zustimmung und Widerspruch für die Nachwelt zu liefern. Dafür und für den Fortschritt der Wissenschaften war die Schrift das beste Mittel. Denn am Festgehaltenen kann sich der Geist feilen. Das Mündliche kann sehr poetisch, filigran die Stimmung wiedergeben, aber es verträgt weder Klammern noch Randbemerkungen, noch Fußnoten, es sei denn Fußnöte, die der Redner durch das lange Stehen erleidet.
    Rational betrachtet liegt darin der Sieg des Schriftlichen über das Mündliche. Nur durch die Schrift ist all das Wissen zu dem geworden, was es heute ist.
    Was das Mündliche geleistet hat, können wir kaum in Worte fassen: Erfahrung wird durch Zeit (von Generation zu Generation) und Raum (von Kontinent zu Kontinent) weitergetragen. Das Produkt des Mündlichen unterliegt aber einer steten Veränderung. Seine Grenzen sind dynamisch, und vieles, was wir heute als Text lesen, ist nichts anderes als eine mögliche Variante des ursprünglichen Berichts. So etwa die Bibel, die vier offiziellen Evangelien, der Koran, die Sprüche aller Propheten. Die Texte wurden Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte später endgültig und in der Form festgehalten,
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