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186 - Wächter der Stille

186 - Wächter der Stille

Titel: 186 - Wächter der Stille
Autoren: Stephanie Seidel
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Tauchtiefe: 2000 Meter
    Irgendwo in den Weiten des Meeres, am Rande des Marianengrabens, zog ein seltsames, rötlich glühendes Wesen dahin. Es war eine Transportqualle, mit drei Passagieren an Bord. Niemand beachtete sie auf ihrem lautlosen Tauchgang, was gewollt und wahrscheinlich auch gut war, obwohl diese unbegreifliche, amorphe Kreatur durchaus Beachtung verdient hätte.
    Transportquallen wurden aus organischen Stoffen und künstlicher Materie gezüchtet; ihre Existenz begann in den bionetischen Labors der Hydriten und endete normalerweise in den Petrischalen einer Recycling-Anlage – als Nährboden für die nächste Generation. Wie stufte man solche Geschöpfe ein?
    Waren es Lebewesen oder höher entwickelte Arbeitsgeräte?
    Über diese Frage dachte Clarice Braxton nach, während sie sich in eine sesselartige Ausstülpung an der Innenwand der Qualle schmiegte. Das Material war kühl und bequem, doch davon merkte die Marsianerin nichts. Ihr Herz pochte heftiger als es sollte, und ihr Gehirn schüttete Unmengen biestiger Botenstoffe aus – Panikmacher, die nur darauf warteten, dass sich Clarice einen Moment entspannte. Sobald sie der jungen Wissenschaftlerin die Erkenntnis ins Bewusstsein tragen konnten: Über dir türmt sich eine zwei Kilometer dicke Wasserschicht auf!, war ihre Mission erfüllt.
    Hier in der Tiefe ließ es sich nachvollziehen, warum jemand dem wilden, stürmischen Pazifik den Beinamen Stiller Ozean gegeben hatte, auch wenn dieser Jemand ganz sicher nie bis in das dunkle Schweigen vorgedrungen war, das zweitausend Meter unter dem Meeresspiegel herrschte. Es war beklemmend. Delfinartige Kreaturen und andere erzählfreudige Begleiter hielten sich in höheren Lagen auf; feste Hindernisse, auf die das Echolot angesprochen hätte, gab es nicht, und die Transportqualle bewegte sich allein durch Muskelkontraktion vorwärts, nach einem ähnlichen Prinzip wie die großen Kalmare. Das ging lautlos vonstatten. Clarice hatte mehr Gelegenheit als ihr lieb war, dem Klang des eigenen Blutes zu lauschen und die viel zu nahen Wände ringsum auf verhängnisvolle Risse abzusuchen. Und sich an die dramatischen Ereignisse in Sydney zu erinnern, die auch nicht angetan waren, ihr Nervenkostüm zu festigen. [1] Ich möchte schreien!, dachte sie.
    Quart’ol merkte nichts vom inneren Kampf seiner wissenschaftlichen Kollegin. Er saß an der Steuerung und kontrollierte die Anzeigen. Sie waren mit lumineszenten Bakterien unterlegt und glommen still vor sich hin. Der Hydrit hatte keine Lust auf Unterhaltung – es gab auch wenig zu sagen in dieser Situation –, deshalb beschränkte er sich darauf, hin und wieder den Tiefenmesser abzulesen.
    »Zweitausendeinhundertzehn«, sagte Quart’ol.
    Clarice stöhnte unterdrückt.
    Ihr Gefährte, der marsianische Waldmann Vogler, drehte sich nach ihr um. Er saß an Quart’ols Seite, trug den gleichen Druckanzug wie Clarice und hatte sie über die Innenlautsprecher seines Helms gehört.
    »Geht es dir gut?«, fragte er besorgt.
    »Alles bestens«, log die Marsianerin. Sie versuchte überzeugend zu klingen, damit sich Quart’ol und Vogler keine Sorgen machten. Es war viel zu spät, um jetzt noch Bedenken gegen diese Tauchfahrt ins Ungewisse anzumelden.
    Clarice strich mit den Fingern über die Quallenwand. Sie trug Handschuhe, trotzdem konnte sie spüren, dass sich das rätselhafte, halb lebendige Material verändert hatte. War es bei fünfhundert Metern Tiefe noch schwabbelig und leicht einzudrücken gewesen, so fühlte es sich jetzt an wie gespannte Muskeln. Es gab noch immer nach, doch man hätte wahrscheinlich Gewalt anwenden müssen, um es zu durchstoßen. Clarice zog die Hand zurück. Diese Transportqualle war das Einzige, was zwischen der Marsianerin und dem sicheren Tod stand, da unterließ man unnötige Versuche tunlichst.
    »Zweitausendeinhundertdreißig«, sagte Quart’ol.
    Etwas knackte, und Clarice fuhr zusammen. Das Geräusch war mit einer Berührung einhergegangen – einem winzigen, leichten Tick an ihrem Unterarm. Hastig überprüfte sie ihren Druckanzug. Wenn man den Konstrukteuren von MOVEGONZ TECHNOLOGY glauben konnte, hielt das Exoskelett dem Wasserdruck bis in zwölfhundert Metern Tiefe stand. Doch was geschah mit ihm, wenn die Obergrenze überschritten war? Würde es tatsächlich brechen? Oder würde es sich stattdessen unter dem Außendruck zusammenziehen wie eine riesige Todeskralle und den eingeschlossenen Körper zerquetschen?
    Ich muss diese Ängste
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