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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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andere Künstler, die ausschließlich auf die Wortkunst bauen, haben immer mehr Erfolg und bekommen sogar einen Sendeplatz im Fernsehen.
    Das alles ist ein Zeichen einer neuen Mündlichkeit. Aber diese neue Mündlichkeit ist ein Hybridwesen. Sie unterscheidet sich wesentlich von der ursprünglichen Mündlichkeit, weil sie, bei aller Liebe zur Improvisation, zu ihrer Existenz den Text braucht. Sie nimmt das Schriftliche auf und modifiziert es, wenn auch nicht immer mit Erfolg, zu einem mündlichen Kunstwerk von beachtlicher Schönheit.
    Die Puristen mögen einwenden, dass unsere heutige mündliche Erzählkunst nicht ganz echt sei, weil sie sie weniger ursprünglich finden. So ist es zum einen fraglich, ob es einen einzigen Ursprung für die Mündlichkeit gibt, auf den man sich berufen kann, und zum anderen ist diese neue mündliche Erzählkunst zeitgemäß, überlebensfähig und verfügt im Vergleich zu ihren Vorfahren über ein gewaltig großes Publikum. Auch die mündliche Kunst gedeiht nicht in einem aseptischen Raum, sondern mitten unter den Menschen, deshalb ist ihr Wandel und ihre Verwandlung allgemein ein ganz natürlicher Prozess, dem alles Lebendige unterliegt. Das soll nicht pauschal als Gütesiegel für das Neue gelten. Die meisten modernen mündlichen Erzähler sind, so wie ihre schriftlichen Zwillingsbrüder, oberflächlich, auf Beifall und Einschaltquoten programmiert, aber ein einziger Gerhard Polt reicht, um die mündliche Erzählkunst dieser Zeit zu loben. Puristen waren immer lebensfeindlich.
     
    Hier sollte mein Vortrag enden. Ich hatte noch einen Satz zum Abschied parat, um die Brüder Grimm zu ehren, die viel mit Kassel zu tun hatten. Sie hatten eine großartige Haltung gegen die Willkür des reaktionären Herrschers Ernst August I. eingenommen, der die errungene Verfassung für das Königreich Hannover wieder aufheben wollte. Eine große Mehrheit der fünfzig Professoren duckte sich, aber die tapferen Sieben erhoben die Stimme für die Freiheit. Die sogenannten Göttinger Sieben wurden entlassen und einige von ihnen, darunter Jacob Grimm, sogar des Landes verwiesen. Eine Woge der Sympathie schlug den Sieben entgegen, und die Universität Göttingen musste in der Folge eine herbe Niederlage einstecken.
    Dann schrieb ich noch einen giftigen Satz: Die Brüder Grimm hinterließen gewaltige Schätze für die deutsche Sprache, König Ernst August I. hinterließ den Deutschen seinen Ernst August Albert Paul Otto Rupprecht Oskar Berthold Friedrich-Ferdinand Christian-Ludwig Prinz von Hannover Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, bekannt unter dem Namen: Pinkelprinz. Wer es nicht glaubt, soll den Begriff »Pinkelprinz« bei Google eingeben.
    Nach diesem Scherz schrieb ich einen seriösen Schluss für meine Rede. Doch bevor ich darauf zurückkomme, erzähle ich, was in jener Nacht passiert ist.
    Ich hörte einen Krach. Es war kurz vor Mitternacht. Draußen tobte der Sturm, und Regen peitschte gegen mein Fenster. Ich dachte, eine Dachrinne wäre gerissen oder ein Baum gegen das Haus gefallen.
    Ich wunderte mich über ein aufdringliches Geräusch und Stimmengewirr im Erdgeschoss. Mein Sohn und meine Frau waren in München. Ich hatte nicht mitfahren können, weil ich an diesem Vortrag arbeitete.
    Für einen Augenblick hatte ich Angst. Es hörte sich an, wie wenn jemand die Haustür aus den Angeln gerissen hätte. Ein Pferd wieherte. Ich rannte hinunter. Don Quijote und Ibn Aristo standen vor meinem Kamin. »Wein und Speis für uns und ein Obdach für die Tiere«, sagte Don Quijote aufgeregt. Um seine Füße sammelte sich langsam eine kleine Wasserlache. Ibn Aristo warf seinen arabischen Umhang von sich, der wie ein nasser Sack neben die Treppe klatschte. »Ein Sauwetter«, sagte er und fuhr sich mit den Fingern durch das lockige Haar.
    Ich eilte hinaus. Sancho Panza stand bei seinem Esel und streichelte ihm den Kopf. Er, Rocinante und der kleine Esel Rucio trieften vor Wasser. Die Garage war leer, da mein Sohn und meine Frau mit dem Wagen nach München gefahren waren.
    »Futter haben sie genug im Sack, aber dieser Regen macht sie fertig«, sagte Sancho. Ich öffnete das Garagentor, und Sancho führte die Tiere hinein. Dann kehrte ich ins Haus zurück. Ibn Aristo hatte bereits ein Feuer im Kamin entfacht.
    »So kannst du das Ganze nicht abschließen«, sagte Don Quijote.
    »Ich habe Hunger wie mein Rucio«, stöhnte Sancho, der inzwischen zu uns gestoßen war.
    Ich bat die Herren in die Küche. Ibn Aristo
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