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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher
Autoren: Stefan Wolf
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1. Mutprobe
     
    Es war einen Tag vor der
Katastrophe, und sie warf — wie man so sagt — ihre Schatten voraus.
    Allerdings — zu erkennen war
das nicht. Nicht mal für einen so findigen und hellwachen jungen wie Tarzan.
    Tief über den Lenker seines
Rennrades gebeugt, jagte er über die Landstraße.
    Es war früher Nachmittag.
Spätherbst. Die Sonne meinte es gut. Über den kahlen Feldern ringsum stand die
Luft hell und klar.
    Fünf Minuten noch bis zur Eisenbahnbrücke.
Tarzan setzte zum Endspurt an. Niemand trieb ihn dazu — nur der eigene Ehrgeiz.
Wer schon als 13jähriger zu den besten Schülern einer großen Internatsschule
gehört, der nutzt eben jede Gelegenheit zum Training. Von nichts kommt nichts.
    Bei der Eisenbahnbrücke war
Tarzan mit Volker Krause verabredet. Volker, ein Klassenkamerad, wollte endlich
sein neues Rad ausprobieren. Er hatte es schon vor einer Woche bekommen, aber
seitdem verhinderte pausenloser Regen einen Ausflug in die Umgebung der Stadt.
    Tarzan hob den Kopf. Er konnte
die Brücke schon sehen.
    Sie war 30 Meter hoch und
überspannte eine Senke, in der die Bahngleise verliefen. Wenn Züge
heranbrausten, konnte man spüren, wie das Geländer vibrierte.
    Es war ein schmales Geländer —
schmaler als eine Hand. Deshalb traute Tarzan seinen Augen kaum, als er jetzt
zur Brücke spähte.
    Eine Gestalt balancierte auf
dem Geländer. Deutlich hob sie sich gegen den hellen Himmel im Hintergrund ab.

    Es war Volker.
    Vor Schreck vergaß Tarzan das
Treten. Während sein Rad weiter rollte, starrte er mit aufgerissenen Augen zur
Brücke. Um Himmels willen! Was sollte dieser Irrsinn? War Volker
übergeschnappt?
    Wie ein Seiltänzer hatte der
Junge die Arme ausgebreitet. Er lief auf dem Geländer auf und ab, vor und
zurück. Der Wind ließ seine braunen Haare flattern und riß an dem Anorak. Wie
leicht konnte er die schwankende Gestalt aus dem Gleichgewicht bringen!
    Wenn Volker nach links kippte,
konnte nicht viel passieren: nur ein Sturz aus Geländerhöhe auf die Straße.
Aber wenn er zur anderen Seite fiel...
    Noch 300 Meter.
    Tarzan fuhr so schnell er
konnte. Der Fahrtwind biß ihm in die Augen. Aber er senkte den Kopf nicht. Wie
hypnotisiert beobachtete er Volker.
    Noch 200 Meter.
    Was war das? Eine Lokomotive
pfiff. Ganz nahe schon klang das. Jetzt hörte Tarzan den Zug, das Rattern, das
Stampfen. Ein Schnellzug. Jeden Moment mußte er unter der Brücke
hindurchbrausen. Dann würde das Geländer zittern und...
    Volker! dachte Tarzan. Spring
runter! Los, runter, du Idiot!
    Aber Volker dachte nicht daran.
Er blieb stehen, wandte sich dem Abgrund zu, ließ die Arme sinken und blickte
dem Zug entgegen.
    Noch 100 Meter.
    Wieder pfiff die Lok. Tarzan
fuhr so schnell wie noch nie. Volker stand reglos auf dem Geländer. Wenige
Schritte entfernt war sein Rad angelehnt.
    „Volker! Runter!“
    Tarzan schrie gegen den
Fahrtwind an. Volker drehte den Kopf. Er lächelte. Aber es war keine Freude
dabei, und auch keine Heiterkeit.
    Tarzan glaubte, das Zittern des
Bodens zu spüren. Nur noch wenige Meter bis zu Volker.
    Reifen kreischten, als er
bremste. Das Rad rutschte unter Tarzan weg. Er ließ es fallen, hechtete zum
Geländer, packte Volkers Jacke und riß den Jungen zu sich herunter.
    „Mensch! …“ Volker schrie auf,
ruderte mit den Armen, landete unsanft auf Tarzan, und beide fielen zu Boden.
Wobei sich Tarzan — der ein erstklassiger Judosportler ist — nicht im
geringsten wehtat. Daß man richtiges Fallen beherrscht, gehört bei dieser
Disziplin zum kleinen Einmaleins.
    Tarzan sprang auf. Sein Gesicht
war bleich — vor Schreck und auch vor Empörung.
    Volker blieb auf der Straße
sitzen. Den Kopf hielt er gesenkt. Mit beiden Händen rieb er sich das linke
Knie.
    Er war ein gutaussehender
Junge. Nur die sehr langen Wimpern hätten vielleicht besser zu einem Mädchen
gepaßt. Der Ausdruck in Volkers rehbraunen Augen war oft traurig, oft auch
teilnahmslos und gleichgültig — so, als öde ihn alles an.
    „Sag’ mal, bist du noch zu
retten?“ fragte Tarzan zornig. „Bist du übergeschnappt? Oder lebensmüde? Oder
hast du vielleicht Flügel unter der Jacke, mit denen du dann im Gleitflug über
dem Abgrund schweben kannst. He?“
    „Quatsch!“ sagte Volker.
„Weshalb regst du dich denn auf?“
    „Da fragst du noch!“
    Volker zwinkerte, als hätte er
was in die Augen gekriegt. Seine Stimme klang belegt. „So eine kleine Mutprobe,
Tarzan, tut hin und wieder ganz gut.“
    „Ach nee!
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