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Das Magdalena-Evangelium: Roman

Das Magdalena-Evangelium: Roman

Titel: Das Magdalena-Evangelium: Roman
Autoren: Kathleen McGowan
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Prolog
    Der Süden Galliens
Im Jahr 72
     
    Es war nicht mehr viel Zeit.
    Die alte Frau zog sich den zerlumpten Schal enger um die Schultern. Dieses Jahr kam der Herbst früh in die roten Berge; sie spürte es in den Knochen. Vorsichtig und langsam bewegte sie ihre Finger und zwang ihre von Gicht geplagten Gelenke, sich zu lösen. Ihre Hände durften ihr jetzt nicht den Dienst verweigern, nicht wo so viel auf dem Spiel stand. Sie musste noch diese Nacht mit dem Schreiben fertig werden. Tamar würde bald mit den Krügen kommen, und dann musste alles bereit sein.
    Sie gestattete sich den Luxus, einen langen, matten Seufzer auszustoßen. Ich bin schon lange müde – so lange.
    Diese Aufgabe, das wusste sie, würde ihre letzte auf Erden sein. Die vergangenen Tage des Erinnerns hatten ihrem verwelkten Leib auch den letzten Rest Leben entzogen. Ihre uralten Knochen waren schwer von unsäglichem Leid und jener Art von Müdigkeit, wie sie jene überkommt, die ihre geliebten Menschen überleben. Gott hatte sie oft auf die Probe gestellt, und es waren harte Proben gewesen.
    Nur Tamar, ihre einzige Tochter und ihr letztes lebendes Kind, war ihr geblieben. Tamar war ihr Segen, ein Licht in jenen dunkelsten Stunden, wenn Erinnerungen, schrecklicher als alle Albträume, sich nicht zähmen lassen wollten. Ihre Tochter war nun die einzige andere Überlebende der Großen Zeit, auch wenn sie noch ein kleines Kind gewesen war, als sie alle ihre Rolle in der lebendigen Geschichte gespielt hatten. Trotzdem,es war ein Trost zu wissen, dass noch jemand lebte, der sich erinnerte – und begriff.
    Die anderen waren nicht mehr. Die meisten waren tot, von Männern und mit Mitteln zu Tode gebracht, die zu brutal waren, als dass man sie hätte schildern können. Vielleicht lebten noch ein paar, verstreut auf dem großen Rund von Gottes Erde. Sie würde es nie erfahren. Es war schon viele Jahre her, seit sie das letzte Mal von den anderen gehört hatte; aber sie betete für sie, betete von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, wenn die Erinnerung sie überkam. Sie wünschte sich von ganzem Herzen und aus tiefster Seele, dass sie Frieden gefunden hatten und nicht die Qualen von Tausenden schlafloser Nächte ertragen mussten.
    Ja, Tamar war ihre einzige Zuflucht in diesem Winter ihres Lebens. Das Mädchen war noch zu jung gewesen, um sich an Einzelheiten aus der Zeit der Dunkelheit zu erinnern, aber alt genug, um die Schönheit und die Gnade jener Menschen im Gedächtnis behalten zu haben, die Gott auserwählt hatte, auf seinem heiligen Weg zu wandeln.
    Tamar hatte ihr Leben der Erinnerung an diese Auserwählten geweiht, und seitdem war sie den Weg der Dienstbarkeit und der Liebe gegangen. Mit welcher Hingabe das Mädchen sich in diesen letzten Tagen um seine Mutter kümmerte, war schon etwas Besonderes.
    Meine geliebte Tochter zurückzulassen ist das einzig Schwierige, das mir noch zu tun bleibt. Selbst jetzt, da der Tod vor meiner Tür steht, vermag ich ihn nicht willkommen zu heißen.
    Und dennoch …
    Die alte Frau spähte aus der Höhle hinaus, die nun schon seit fast vier Jahrzehnten ihr Heim darstellte. Der Himmel war klar, als sie ihr von Falten zerfurchtes Gesicht zu ihm emporhob und die Schönheit der Sterne genoss. Sie würde niemals aufhören, über Gottes Schöpfung zu staunen. Irgendwo, jenseits dieser Sterne, warteten die Seelen jener auf sie, die sie liebte. Sie konnte sie spüren, und sie waren ihr nun näher als je zuvor.
    Sie konnte ihn spüren.
    »Dein Wille geschehe«, flüsterte sie in den Nachthimmel hinauf. Dann drehte die alte Frau sich langsam wieder um und ging hinein. Drinnen angelangt, atmete sie tief durch, kniff im trüben und rauchigen Licht der Öllampe die Augen zusammen und ließ ihren Blick über das Pergament schweifen.
    Schließlich nahm sie den Griffel und machte sich erneut daran zu schreiben.

A ll diese Jahre, und es fällt mir keinen Deut leichter, über Judas Ischariot zu schreiben, als in jenen dunklen Tagen. Und das nicht, weil ich über ihn gerichtet hätte, sondern eher, weil ich das nicht getan habe.
    Ich will Judas’ Geschichte erzählen und hoffe, so der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Als Mann war er unnachgiebig in seinen Prinzipien, und jene, die uns folgen, müssen dies wissen: Er hat jene – oder uns – nicht für einen Sack voll Silber verraten. In Wahrheit war Judas der treueste der Zwölf. In all diesen Jahren habe ich so viele Gründe gehabt zu trauern, und doch glaube ich, dass ich nur um
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