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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman
Autoren: Heyne
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PROLOG

    Anscheinend bin ich das, was man einen unzuverlässigen Erzähler nennt, aber wer alles für bare Münze nimmt, was ihm vorgeschwatzt wird, hat es sowieso nicht anders verdient. Es ist wirklich erstaunlich, das kannst du mir glauben, und vollkommen beispiellos, dass du diese Worte überhaupt liest. Hast du schon mal einen Seismografen gesehen? Du weißt schon, so ein furchtbar zartes und empfindliches Gerät mit einem spinnenhaft langen Stift, der eine Linie auf eine bewegliche Papierrolle kritzelt, um Erderschütterungen aufzuzeichnen.
    Stell dir so einen Apparat vor, der gerade eine ruhige Kugel schiebt und nichts Besonderes dokumentiert, der einfach mit einer gleichmäßigen schwarzen Linie nur Stille und Reglosigkeit zu deinen Füßen und überall sonst auf der Welt registriert, doch plötzlich rattert er los, in gestochen scharfer Schrift, und das Papier darunter zuckt hin und her, um den fließenden kalligrafischen Wirbel zu erfassen. (Vielleicht schreibt er: »Anscheinend bin ich das, was man einen unzuverlässigen Erzähler nennt …«)
    Ungefähr so unwahrscheinlich ist es, dass ich das hier schreibe und irgendjemand es liest.
     
    Zeit, Ort. Notwendig wohl, wenn auch unzureichend unter den Umständen. Aber irgendwo und irgendwann müssen wir eben einsteigen, also fange ich mit Mrs. Mulverhill an und halte fest, dass ich ihr, nach deiner Zählung, zum ersten Mal kurz vor Anbruch jenes goldenen Zeitalters begegnet
bin, das damals niemand als solches empfand; ich spreche von dem langen Jahrzehnt zwischen dem Fall der Mauer und dem Fall der Türme.
    Wenn du es pedantisch genau nehmen willst, dauerte dieses im Rückblick so glückselige Dutzend Jahre von der kalten, fieberhaften Nacht des 9. November 1989 in Mitteleuropa bis zu dem klaren Morgen des 11. September 2001 an der Ostküste Amerikas. Das erste Ereignis stand symbolhaft für die Aufhebung der Bedrohung durch einen atomaren Holocaust, die fast vierzig Jahre lang als Damoklesschwert über der Menschheit geschwebt hatte, und beendete damit eine Zeit der Idiotie. Das zweite Ereignis läutete eine neue ein.
    Der Fall der Mauer war nicht besonders spektakulär. Es war Nacht, und im Fernsehen sah man nur einen Pulk Berliner in Lederjacken, die sich auf Stahlbeton stürzten - zumeist mit Hämmern und ziemlich ineffektiv. Es gab keine Todesopfer. Viele Leute waren blau und high - und vermutlich landeten nicht wenige miteinander im Bett. Die Mauer selbst war kein imposantes Bauwerk, weder recht hoch noch übermäßig abschreckend; das eigentliche Hindernis war immer schon die nackte, sandige Todeszone dahinter mit Minen, Hundezwingern und Natodraht gewesen.
    Die vertikale Barriere hatte als Abgrenzung von jeher eher Symbolcharakter besessen. Daher war es unerheblich, dass ihr die dort oben hockenden fröhlichen Vandalen in Ermangelung schweren Geräts nicht viel anhaben konnten; was zählte, war, dass sie überall auf diesem berüchtigten Symbol der Entzweiung herumturnten, ohne von Maschinengewehren niedergemäht zu werden. Aber als Ausdruck einer Aufbruchsstimmung und der Hoffnung auf einen Wandel zum Besseren konnte man wahrscheinlich
nicht mehr verlangen. Der Al-Kaida-Angriff auf die USA - da unter Berufung auf diesen Anschlag ein Land besetzt wurde, und noch dazu im Namen der Demokratie, sollten wir die Sache auch bei ihrem nationalistischen Namen nennen: der saudi-arabische Angriff auf die USA hätte keinen größeren Kontrast dazu abgeben können.
    Zwischen diesen weitreichenden Einebnungen spannten sich die Jahre wie eine Hängematte, die die Zivilisation in einen glückseligen Schlummer der Unwissenheit wiegte.
    Irgendwann in der Mitte dieser friedlichen Mulde kamen Mrs. M und ich einander abhanden. Ein letztes Mal trafen und trennten wir uns wieder kurz vor dem dritten Fall, dem Fall der Wall Street und der City, dem Fall der Banken und der Märkte, der am 15. September 2008 einsetzte.
    Wohl die meisten Menschen begreifen solche Ereignisse als Lesezeichen im Buch ihres Lebens.
    Dennoch scheint mir, dass solche Überschneidungen zwar durchaus nützlich sind, wenn es darum geht, eine persönliche Ära in unserer gemeinsamen Geschichte zu verankern, aber ansonsten keine Bedeutung haben. Während ich nach meinem eigenen kleinen Fall die ganze Zeit hier gelegen habe, bin ich zu der Auffassung gelangt, dass die Dinge ziemlich genau die Bedeutung haben, die wir ihnen zuschreiben. Wenn es uns in den Kram passt, entnehmen wir dem banalsten Zufall Sinn,
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