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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Autoren: Noam Shpancer
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    D er Psychologe sitzt in seinem kleinen Sprechzimmer, stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch, vergräbt das Gesicht in den Händen und wünscht sich, sein Vier-Uhr-Termin würde nicht erscheinen. Gewöhnlich nimmt er ab drei keine Termine mehr an. Doch in ihrem Fall hat er sich entschieden, von seiner üblichen Routine abzuweichen. Eine kleine Gefälligkeit, denn sie arbeitet bis spät in die Nacht und schläft lange und kann es nur am späten Nachmittag schaffen, das hat sie am Telefon gesagt. Ihre Stimme, freudlos und gehetzt wie ein überstürzt aufgegebenes Motelzimmer, weckte in ihm eine vage Neugier. Eine kleine Gefälligkeit, sagt er gern zu seinen Klienten, ist wie kleine Münze: Die meisten von uns werden sich letztlich damit begnügen müssen. Kleine Münze, das sind unsere täglichen Gewohnheiten und unsere Routine, unser Alltag, und die Summe unseres Lebens ergibt sich letztlich aus der Summe dieser Alltäglichkeiten.
    Seine Alltagsroutine zum Beispiel ist einfach und unkompliziert. Jeden Morgen wacht er früh in seiner kleinen Wohnung auf, duscht und zieht sich an. Seine Wohnung ist bewusst dunkel gehalten. Hohe, mit Büchern beladene Holzregale säumen die Wohnzimmerwände. Früher, in seinen Lehr- und Wanderjahren, hat er sich in diesen Büchern vergraben. Er ist schon vor langer Zeit müde geworden, oder, wie er es ausdrücken würde, zur Ruhe gekommen. Aber noch immer findet er Trost in diesen Backsteinen aus Papier, die die Wände einfassen, als stützten sie das Dach.

    Nach dem Anziehen geht er in die Küche, macht sich eine Tasse Tee und setzt sich hin, um die Zeitung zu lesen. Ausgewählte Gegenstände – Geschenke und Erinnerungsstücke, die er im Laufe der Jahre von seinen Klienten bekommen hat – sind über die ganze Küche verteilt. Über dem kleinen quadratischen Tisch hängt ein gerahmter Druck von Bonnards Gedeckter Tisch im Garten, ein Geschenk einer ehemaligen Klientin, einer Cellistin mit Borderlinesyndrom, die eines Nachts auf seinem Rasen auftauchte und ihr Haar in Brand steckte. Sie sind eine Kakerlake, schrie sie ihm damals zu, eine Kakerlake. Wenn ich Sie zertrete, werden Sie zerquetscht. Er betrachtet das Bild gerne: ein gedeckter Tisch unter Bäumen, ein Stuhl, eine Flasche Wein und gelbes Licht, das überraschend lebendig durch die Zweige fällt.
    Der Zierteller aus Messing ist ein Geschenk von einer anderen Klientin, einer Reisebüroangestellten mit langen Zöpfen, der er geholfen hatte, über ihren ehemaligen Freund hinwegzukommen. Als er sie bat, eine Erinnerung zu schildern, die ihre Beziehung beschrieb, erzählte sie ihm, ihr Freund habe ihr beigebracht, sich beim Radiohören die Zähne zu putzen. Putz vom Anfang eines Songs bis zum Ende, sagte der Freund; dann weißt du, dass du drei Minuten geputzt hast, wie man es tun soll. Und dann weinte sie.
    Der bunte Keramikbecher, den er in der Hand hält, war das Geschenk einer Klientin, deren Namen er vergessen hat, einer Künstlerin, die sagte: Sie haben mir sehr geholfen, und ihn fragte, ob sie ihm ein kleines Geschenk machen dürfe, beim Hinausgehen im Türrahmen einen Augenblick stehen blieb und flüsterte, mein Mann schlägt mich, ging und niemals wiederkam.
    Das blaue Handtuch, mit dem er sich die Hände abtrocknet,
hat ihm eine obsessiv-zwanghafte Klientin geschenkt, die jeden einzelnen Körperteil mit einem eigens dafür bestimmten Handtuch abzutrocknen pflegte, sechzehn Handtücher für einmal Duschen. Dann musste sie jedes Handtuch einzeln sechsmal waschen und danach am Waschbecken sechsmal die Hände. Der Anblick einer aufsteigenden Luftblase in der Flasche mit Handseife zwang sie, die Flasche in eine braune Papiertüte zu packen und in den Müll zu werfen und in den Laden zu gehen, um eine neue zu kaufen.
    In einem Küchenschrank steht eine halb leere Flasche Brandy, die er vor Jahren von einem Klienten geschenkt bekommen hat, der sich später auf folgende Weise umbrachte: Er setzte sich in die leere Badewanne und schnitt sich mit einem Metzgermesser das linke Handgelenk auf. Dann versuchte er, auch das rechte Handgelenk aufzuschneiden, was allerdings misslang. Er gab nicht auf. Er klemmte sich das Messer zwischen die Knie und sägte so an seinem rechten Handgelenk herum, auf und ab. Auf eine zerdrückte Pizzaschachtel im Wohnzimmer hatte er seinen Letzten Willen gekritzelt: Bitte verbrennt meine Leiche. Schüttet meine Asche in die Mülltonne. Danke.
    Inzwischen, glaubt der Psychologe, hat er die meisten
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