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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman
Autoren: Heyne
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zugleich jedoch ignorieren wir zufrieden selbst die auffälligste Symmetrie zwischen getrennten Aspekten unseres Lebens, falls sie ein vertrautes Vorurteil oder eine tröstlich bestärkende Überzeugung bedrohen. Gerade dort, wo die erhellendsten Einsichten warten, sind wir am blindesten. Das hat Mrs. Mulverhill gesagt, glaube ich. Möglicherweise war es auch Madame d’Ortolan - ich verwechsle die beiden manchmal.

    Da ich nun ohnehin schon etwas vorgegriffen habe, wollen wir diese Wirkung gleich vollends auskosten, statt ihr einen Riegel vorzuschieben.
    Denn bestimmt möchtest du schon jetzt am Anfang wissen, wie es mit meiner Rolle in dieser Geschichte ausgeht.
    Dann will ich es dir erzählen.
     
    Es endet folgendermaßen: Er kommt in mein Zimmer. Schwarz gekleidet und mit Handschuhen. Hier drinnen ist es dunkel, nur ein Nachtlicht brennt, aber er kann mich auf dem Krankenhausbett erkennen, leicht aufgestützt und durch ein oder zwei Schläuche und Kabel mit medizinischen Apparaten verbunden. Diesen schenkt er keine Beachtung. Der Pfleger, der jeden Alarm registrieren müsste, liegt gefesselt und geknebelt auf seiner Station, der Monitor vor ihm ist abgeschaltet. Der Mann schließt die Tür, und im Zimmer wird es noch dunkler. Leise tritt er heran, obwohl es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass ich aufwache, da man mir ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht hat, damit ich gut schlafe. Er betrachtet mein Bett. Selbst bei dem schwachen Licht kann er ausmachen, dass mich die Decke eng umschlungen hält. Beruhigt greift er nach dem Reservekissen neben meinem Ohr und schiebt es mir - sachte zuerst - übers Gesicht, dann drückt er es rasch auf mich nieder, die Hände zu beiden Seiten meines Kopfs, und hält meine unter dem Bettzeug gefangenen Arme mit den Ellbogen fest. Fast sein ganzes Gewicht ruht auf seinem Oberkörper, und seine Füße heben sich vom Boden, bis er ihn nur noch mit den Schuhspitzen berührt.
    Anfangs reagiere ich gar nicht. Als ich mich endlich bewege, lächelt er. Meine schwachen Anstrengungen, die Hände nach oben zu zerren und mich mit den Beinen freizustrampeln,
bleiben vergeblich. Eingehüllt in die Decke wäre es selbst einem kräftigen Mann kaum gelungen, sich von dieser erstickenden Last zu befreien. Mit einem letzten hoffnungslosen Aufbäumen versuche ich, einen Buckel zu machen. Mühelos übersteht er diese Aufwallung, und ich sinke zurück. Jede Gegenwehr erlischt.
    Aber er ist nicht dumm; er rechnet damit, dass ich mich tot stellen könnte.
    Also legt er sich eine Weile quer über mich, reglos wie ich, und wirft hin und wieder einen Blick auf die Uhr, die die vorübertickenden Sekunden anzeigt, um ganz sicher zu sein, dass ich erledigt bin.
     
    Hoffentlich bist du jetzt zufrieden. Ein Ende, und schon so kurz nach dem Auftakt! Doch erst mal zurück zum Anfang, zu etwas, das gewissermaßen erst geschehen muss.
     
    Es beginnt in einem Zug zwischen China und Tibet, der höchstgelegenen Eisenbahnlinie der Welt. Es beginnt mit einem Mann in einem billigen braunen Straßenanzug, der mit etwas unsicherem Gang von einem schwankenden Waggon in den nächsten wechselt. In einer Hand hält er eine kleine Sauerstoffflasche, in der anderen eine halbautomatische Handfeuerwaffe. Er tritt auf die beweglichen Metallplatten zwischen den Wagen, und neben ihm ächzt und biegt sich der Faltenbalg wie eine gigantische Version des gerippten Schlauchs, der den Sauerstoffzylinder mit der durchsichtigen Maske vor seiner Nase und seinem Mund verbindet. Er spürt sein nervöses Lächeln in der Maske.
    Um ihn herum rattert und rüttelt der Zug schwerfällig auf und ab, hin und her und wirft ihn kurz gegen die gewellten
Wände der Manschette. Vielleicht eine Stelle, wo sich der Permafrost als nicht mehr ganz so permanent erweist - er hat von entsprechenden Problemen gehört. Er richtet sich auf, als der Zug wieder sein Gleichgewicht findet und seine Fahrt ruhig fortsetzt. Dann schiebt er sich die Sauerstoffflasche unter die Achsel, um mit der freien Hand die Krawatte zurechtzurücken.
    Die Waffe ist eine mehrere Jahrzehnte alte K-54 der Volksarmee und liegt angenehm glatt in der Hand. Er hat noch nie damit geschossen, aber sie soll zuverlässig sein. Der Schalldämpfer wirkt plump, fast wie ein Eigenbau. Aber er muss reichen. Nachdem er sich die Hände an der Hose abgewischt hat, entsichert er die Pistole und streckt die Finger nach der Zahlentafel an der Tür zu dem Privatwaggon aus. Auf dem Anzeigefeld des
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