Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der schüchterne Junggeselle

Der schüchterne Junggeselle

Titel: Der schüchterne Junggeselle
Autoren: P. G. Wodehouse
Vom Netzwerk:
ERSTES KAPITEL
1
    Da sich auf dem Dach des Sheridan Apartment House bald aufregende Ereignisse abspielen werden, dürfte es gut sein, das Terrain kennenzulernen.
    Das Sheridan-Gebäude steht in der Nähe des Washington Square, im Zentrum des New Yorker Bohemien- und Künstlerviertels. Wenn man aus einem seiner Fenster einen Ziegelstein wirft, kann man sicher sein, einem aufstrebenden jungen Innendekorateur, einem »neuformenden« Bildhauer oder einem Verfasser revolutionärer freier Rhythmen den Kopf einzuschlagen. Sein schönes, flaches Dach, das zehn Stockwerke über der Straße liegt, ist gekachelt und von einer niedrigen Mauer eingefaßt, die an einer Seite von einer Eisenkonstruktion – der Feuerleiter – überragt wird. Steigt man diese hinab, so kommt man in den Garten des »Roten Huhns« ; dieses Restaurant ist eine jener zahlreichen Oasen, wo man »Es«, wie die Eingeweihten einander zuflüstern, dem Prohibitionsgesetz zum Trotz, noch immer »jederzeit kriegt, wenn die Leute einen kennen«.
    Auf der anderen Seite des Daches, gegenüber der Feuerleiter, befindet sich eine sogenannte »kleine Junggesellenwohnung im Laubenstil«. Es ist ein Bungalow mit weißgetünchten Mauern und rotem Ziegeldach, und der »kleine Junggeselle«, der dort wohnt, ist ein höchst achtbarer junger Mann namens George Finch, der aus East Gilead in Idaho stammt, jetzt aber dank der ansehnlichen Hinterlassenschaft seines Onkels Mitglied des New Yorker Quartier Latin ist. Denn da George nicht mehr darauf angewiesen ist, sich sein tägliches Brot zu verdienen, hat er seinen lange unterdrückten Wünschen Erfüllung gewährt: er ist in die Hauptstadt gezogen und versucht sich im Malen. Schon als Knabe hatte er immer Künstler werden wollen, und jetzt ist er es; ja, mehr noch, er ist wahrscheinlich der schlechteste Maler, der je eine Leinwand mit seinem Pinsel bearbeitet hat.
    Weiter: der große, runde Gegenstand, der wie ein Fesselballon aussieht, ist der Wasserbehälter. Das kleine, längliche Gartenhaus ist George Finchs sommerliche Schlafveranda. Die Topfpflanzen sind Topfpflanzen. Der beleibte Mann, der mit einem Besen fegt, ist Mullett, Georges Kammerdiener, Koch und Mann für alles.
    Und jene imposante Gestalt mit dem wuchtigen Kinn und der Hornbrille, die in der Sonne blitzt und funkelt, während er aus der Tür des Treppenhauses tritt, ist kein Geringerer als J. Hamilton Beamish, der Verfasser der berühmten Beamish-Büchlein (»Lies sie, und die Welt gehört dir«), welche die Bevölkerung Amerikas so viel gelehrt haben: Beobachtungsvermögen, Auffassungsgabe, selbständiges Urteil, Initiative, Willenskraft, Entschlußfähigkeit, Geschäftssinn, Pfiffigkeit, Organisationstalent, Führereigenschaften, Selbstvertrauen, Energie, Originalität – kurz, alles von der Hühnerzucht bis zur Dichtkunst. Die erste Regung, die jeder Anhänger der Büchlein beim Anblick seines Mentors empfunden hätte, wäre wahrscheinlich – abgesehen selbstverständlich von jener natürlichen Scheu, die über uns kommt, wenn wir große Männer vor Augen bekommen – Überraschung über seine große Jugend gewesen: der weise Hamilton Beamish war erst anfangs Dreißig. Doch das Gehirn des Genies reift rasch; und Menschen, die den Vorzug hatten, Mr. Beamish im Anfang seiner Laufbahn zu kennen, sagen, er hätte schon im Alter von zehn Jahren alles gewußt, was gewußt werden könne – oder sich wenigstens so benommen.
    Das erste, was Hamilton Beamish tat, als er auf das Dach des Sheridan-Gebäudes kam, war ein wiederholtes tiefes Atmen – natürlich durch die Nase. Dann rückte er die Brille zurecht und warf einen funkelnden Blick auf Mullett. Er sah Mullett einen Augenblick zu, dann schürzte er die Lippen und schüttelte den Kopf. »Ganz falsch!« sagte er.
    Das Resultat dieser mit Donnerstimme gesprochenen Worte war, daß Mullett fast einen halben Meter in die Höhe sprang und seinen Kaugummi verschluckte. Da der große Denker immer geräuschlose Gummisohlen trug (»Sie schonen das Rückgrat«), hatte der Diener ihn nicht kommen gehört.
    »Ganz falsch!« wiederholte der große Mann.
    Und wenn Hamilton Beamish »Ganz falsch!« sagte, dann war daran nicht zu rütteln. Er dachte klar und urteilte rasch, ohne zu zögern oder zu schwanken. Ein Ford war für ihn ein Ford.
    »Falsch, gnädiger Herr?« stammelte Mullett, sobald ihm klargeworden war, daß es doch keine Bombenexplosion gewesen sei.
    »Falsch. Unrationell. Zuviel überflüssige Bewegung. Von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher