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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
Autoren: Jeanette Winterson
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Meine Mutter nannte mich Silver. So kam ich auf die Welt: teils Edelmetall, teils Pirat.
    Ich habe keinen Vater. Das allein ist noch nichts Ungewöhnliches, selbst Kinder, die einen Vater haben, sind oft überrascht, ihn zu sehen. Mein eigener Vater kam aus dem Meer und verschwand auf demselben Weg. Er gehörte zur Mannschaft eines Fischerboots, das eines Nachts, als die Wellen krachten wie dunkles Glas, in unserem Hafen Schutz suchte. Sein zersplitterter Rumpf hielt ihn lange genug an Land, um in meiner Mutter vor Anker zu gehen.
    Schwärme von Babys wetteiferten ums Leben.
    Ich gewann.
     
    Ich wohnte in einem Haus, das steil in den Hang gehauen war. Die Stühle mussten am Boden festgenagelt werden, und wir durften nie Spagetti essen. Wir aßen nur, was am Teller klebte – Auflauf, Gulasch, Risotto, Rührei. Einmal probierten wir’s mit Erbsen – ein Fiasko. Hin und wieder finden wir noch welche, verstaubt und grün in den Zimmerecken.
    Manche Menschen werden auf einem Hügel groß, andere im Tal. Die meisten von uns wachsen auf ebenem Grund auf. Ich kam in der Schräglage zum Leben, und so habe ich seither gelebt.
    Abends brachte mich meine Mutter in einer Hängematte zu Bett, die kreuz und quer vor dem Hang aufgespannt war. Sanft gewiegt von der Nacht, träumte ich von einem Ort, wo ich nicht mit dem eigenen Körpergewicht gegen die Schwerkraft anzukämpfen bräuchte. Meine Mutter und ich mussten uns aneinander binden wie zwei Kletterer, nur um bis vor unsere Haustür zu gelangen. Einmal ausgerutscht, und wir hätten bei den Kaninchen auf den Bahnschienen gelegen.
    »Du bist nicht der Typ, der aus sich rausgeht«, sagte sie zu mir, obwohl das wohl eher damit zu tun hatte, dass das Rausgehen so mühselig war. Während andere Kinder beim Verlassen des Hauses beiläufig gefragt wurden: »Hast du auch an deine Handschuhe gedacht?«, bekam ich zu hören: »Hast du auch alle Schnallen an deinem Sicherheitsgurt zugemacht?«
     
    Warum wir nicht umgezogen sind?
    Meine Mutter war allein erziehend mit einem unehelichen Kind. Es hing kein Schloss an der Tür in jener Nacht, als mein Vater vorbeikam. Also schickte man sie den Hügel hinauf, raus aus der Stadt – mit dem eigenartigen Ergebnis, dass sie darauf herabblickte.
    Salts. Meine Heimatstadt. Eine Stadt wie eine Muschel, an Land geschleudert, steinzerfressen, sandverkrustet. Ach ja, und wir hatten einen Leuchtturm.
     
    Es heißt, man könne vom Körper eines Menschen auf sein Leben schließen. Für meinen Hund gilt das ganz bestimmt. Die Hinterbeine meines Hundes sind kürzer als seine Vorderbeine, weil er sich immer mit dem hinteren Ende in die Erde stemmt und mit dem vorderen Ende draufloskraucht. Auf ebener Erde hat er eine Art federnden Gang, was ihn noch lustiger wirken lässt. Er weiß nichts davon, dass andere Hunde hinten und vorne gleich lange Beine haben. Wenn er überhauptdenkt, dann denkt er, alle Hunde seien genau wie er; wie’s aussieht, leidet er nicht an dem krankhaften Zwang zur Selbstbeobachtung wie die Menschen, die jeder Abweichung von der Norm mit Angst oder Strafe begegnen.
    »Du bist nicht wie die anderen Kinder«, sagte meine Mutter. »Und wenn du in dieser Welt nicht überleben kannst, solltest du dir besser eine eigene Welt schaffen.«
    Das abweichende Verhalten, das sie mir unterstellte, war in Wirklichkeit ihr eigenes. Sie war es, die äußerst ungern aus dem Haus ging. Sie war es, die nicht in der Welt leben konnte, die für sie vorgesehen war. Sie wollte unbedingt, dass ich frei war, und tat alles, was in ihrer Macht stand, damit das niemals geschah.
    Wir waren aneinander geschnallt, ob wir wollten oder nicht. Wir waren eine Seilschaft.
    Und dann stürzte sie ab.
     
    Das geschah so:
    Der Wind blies stark genug, um einem Fisch die Flossen abzureißen. Es war Faschingsdienstag, und wir waren unterwegs gewesen, um Mehl und Eier für Pfannkuchen zu kaufen. Eine Zeit lang hielten wir uns Hennen, doch die Eier rollten davon, und unsere Hennen waren die einzigen auf der Welt, die sich beim Eierlegen mit den Schnäbeln festklammern mussten.
    An diesem Tag war ich aufgeregt, weil man in unserem Haus wirklich gut Pfannkuchen hochwerfen konnte – mit dem steilen Hang gleich unter dem Ofen wurde aus dem Ritual des Lockerns und Hochwerfens eine Art Jazz. Meine Mutter tanzte beim Kochen, weil es ihr half, ihr Gleichgewicht zu halten, sagte sie.
    Sie schleppte den Einkauf und zog mich hinter sich her wie einen nachträglichen Einfall. Dann muss
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