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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman
Autoren: Heyne
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dafür einen Finger rühren zu müssen. Was für ein herrlicher Luxus, ungestört nachdenken zu können.
    Ich bin allein in einem kleinen, quadratischen Raum mit weißen Wänden, hoher Decke und großen Fenstern. Das Bett ist ein alter Stahlkasten mit einer manuell einstellbaren Rückenlehne und Gitterseiten, die klirrend hochgezogen werden können, damit der Patient nicht heraus fällt. Die frische weiße Bettwäsche strahlt nur so vor Sauberkeit, und die Kissen sind zwar etwas klumpig, aber prall. Der
Linoleumboden glänzt hellgrün. Das restliche Mobiliar des Zimmers besteht aus einem ramponierten Holznachttisch und einem billigen Stuhl aus schwarz bemaltem Metall und verblichenem roten Plastik. An der Wand über der Tür zum Gang ist ein Oberlicht angebracht. Hinter den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen, befindet sich ein kleiner Balkon mit einem dekorativen Eisengeländer.
    Zwischen den Stäben geht der Blick auf einen Grasstreifen und eine Reihe von Laubbäumen, dahinter auf einen seichten Fluss, der bei entsprechendem Einstrahlwinkel im Sonnenlicht glitzert. Die Bäume verlieren inzwischen die Blätter, und der Fluss ist deutlicher zu erkennen. Mein Zimmer liegt im zweiten und damit höchsten Stockwerk der Klinik. Einmal sah ich auf dem Fluss ein Ruderboot mit zwei oder drei Leuten darin, und manchmal bemerke ich Vögel. Ein anderes Mal hinterließ ein Flugzeug hoch droben am Himmel einen langen weißen Kondensstreifen, wie das Kielwasser eines Schiffs. Eine Zeit lang beobachtete ich, wie er sich langsam ausbreitete, ausfranste und im Sonnenuntergang rot wurde.
    Hier müsste ich eigentlich in Sicherheit sein. Sie werden nicht auf die Idee kommen, hier nach mir zu suchen. Glaube ich. Natürlich sind mir auch andere Möglichkeiten eingefallen: eine Jurte in einer endlosen Steppe mit einer Großfamilie und dem Wind als einziger Gesellschaft; eine brechend volle Favela an einem steilen Hang, geprägt vom gemeinsamen Schweißgeruch und dem Lärm plärrender Kinder, brüllender Kerle und scheppernder Musikrhythmen; die stolze Ruine eines Klosters auf den Kykladen, wo ich den Ruf eines Einsiedlers und Exzentrikers erwerbe; zusammen mit anderen zerlumpten Tunnelbewohnern im düsteren Manhattaner Untergrund.

    Ob offen sichtbar oder in größter Abgeschiedenheit, es gibt immer viele, viele Verstecke, auf die sie nie verfallen würden. Andererseits kennen sie mich und wissen, wie ich denke, daher erraten sie vielleicht schneller als ich selbst, wohin ich mich wenden werde. Dann die Schwierigkeit, sich natürlich einzufügen oder sich zu tarnen, eine Rolle zu spielen: ethnische Zugehörigkeit, Physiognomie, Hautfarbe, Sprache, Fähigkeiten - alles muss berücksichtigt werden.
    Wir sind ja immer am Sortieren. Hier die eine Gruppe, dort die andere. Sogar in Großstädten, sogenannten Schmelztiegeln, teilen wir uns meist nach kleinen Enklaven und Bezirken ein, um in den Gemeinsamkeiten des Hintergrunds und der Kultur Trost zu finden. Unser Wesen, unsere Sexualität, unser genetisch bedingtes Verlangen nach Herumstreifen und Experimentieren, unsere Lust aufs Exotische oder einfach nur das andere können zu interessanten Paarbildungen und einem gemischten Erbe führen, doch unser kontinuierliches Bedürfnis nach Gruppierung, Bewertung und Einordnung zieht uns immer wieder zurück in feste Arrangements. Dadurch wird es schwer, sich zu verstecken. Ich bin - oder sehe zumindest danach aus - ein blasser, hellhäutiger Mann, und entsprechend eingeschränkt ist auch die Auswahl der möglichen Schlupfwinkel, in denen ich nicht auffallen würde.
    Ein Lastwagenfahrer. Das wäre eine gute Tarnung. Ein Fernfahrer, der durch den mittleren Westen der USA oder durch die Ebenen Kanadas braust, quer durch Argentinien oder Brasilien. Oder gleich am Steuer eines Lastzugs mit mehreren Anhängern, der durch die australische Wüste brettert. Man bleibt verborgen, weil man ständig in Bewegung ist und nur selten Leuten begegnet. Oder ein Deckhelfer oder Koch auf einem Schiff: ein Containerfrachter,
der mit einer kleinen Mannschaft über die Hochsee pflügt und ausschließlich riesige, automatisierte und praktisch menschenleere Containerterminals anläuft, weit entfernt von den Großstädten, zu denen sie gehören. Wer könnte mich aufspüren, wenn ich ein derart unstetes Leben führe?
    Doch nun bin ich hier. Ich habe meine Entscheidung getroffen und keine andere Wahl mehr; ich muss damit klarkommen. Ich habe meine Route berechnet, die
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