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Der neue Daniel

Titel: Der neue Daniel
Autoren: Willy Seidel
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Die Menschenpumpe
    Erwin und Mildred heirateten in New York und verbrachten ihre Flitterwochen am oberen Hudson. Den darauffolgenden Winter verlebten sie wieder in der Stadt; und als das Frühjahr des Jahres neunzehnhundertsechzehn kam, hatten sie sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholt darüber, daß der Krieg noch keineswegs zu Ende war, sondern sich in Europa zu einer schauerlichen Angewohnheit auszuwachsen schien.
    Aus ihrem früheren Optimismus (was die Dauer des Krieges anging), verbunden mit der herzlichen Antipathie, die sie der Bevölkerung ihres Zwangsexils entgegenbrachten, erklärt es sich auch, daß sie sich nicht die geringste Mühe gaben, sich einen festen Freundeskreis zu bilden, auf den sie hätten zurückgreifen können. Erwin hätte immerhin noch Winkel gefunden, warme Ecken, wo er sich an einem Schatten von Verständnis dürftig hätte anwärmen können; sie aber mit ihrer englischen Abneigung gegen überstürzte Herzlichkeit hatte ihn mehrfach verhindert, mit gewissen Menschen in Kontakt zu bleiben; hatte ein paar fürEuropa sehr nützliche, aber für den jetzigen oberflächlichen Allerweltsbetrieb unangebrachte Vorurteile mitgebracht, an denen sie vielleicht selbst litt, deren sie aber ohne Verlust an Selbstachtung nicht entraten durfte. Sie machte auch ihn reserviert. Was jedoch einem anderen gut gestanden, was ihm die Wege geebnet hätte, schadete Erwin, da er ein zu einladendes Äußeres besaß. Der schlichte Durchschnittsamerikaner ging selten an ihm vorüber, ohne die Verlockung zu spüren, ihm auf die Schulter zu klopfen oder ihm eine Zigarre anzubieten. So wurde er frühzeitig schon von seinem natürlichen Instinkt, der Menschen nötig hatte, künstlich abgelenkt und gleichsam zwischen Tisch und Stuhl gewiesen... Andererseits ersetzte ihm die amüsante Persönlichkeit seiner Gefährtin viel von dem, was er zuweilen halb schmerzlich vermißte.
    Nach dem Gefühlssturm der ersten gemeinsamen Wochen, in denen sich ihre inkongruenten Naturen abschliffen und ihre Liebe ihm plötzlich vollerblüht in den Schoß fiel – (nachdem er fast geglaubt, ihr fürderes Verhältnis würde sich auf Kameradschaftlichkeit und freundschaftliche Rücksichtnahme beschränken müssen) – geschah es, daß sie einander völlig unentbehrlich wurden und daß die durch nationale Verschiedenheiten gestörte Harmonie ihr ruhiges Strombett fand.
    Trotz der festen Erwartung eines Heimes, wie es ihnen ein baldiges Ende des Krieges lockend vor Augen stellte – (und der Krieg mußte docheinmal ein Ende haben!) – spürten sie nach gelegentlichen Ausflügen in die Stadt, nach wirbelndem Wechsel von Gesichtern, nach Vorstellungen oder Lichtbildern, voll von zuckender Handlung in stechend heller Bestrahlung, eine ungeheure Leere um sich herum... Diese Leere wuchs überall hervor. Sie hing in den Profilreihen, die sich ihnen beim Eintritt in die Untergrundbahn leicht verblüfft entgegendrehten. Sie grinste aus den maskenhaften Gesichtern gleichgültiger Kellner. Sie dröhnte, taub an ihnen zerplatzend, aus den gellenden Rufen der Zeitungsjungen. Sie stieg aus jeder Straßenschlucht und kreischte metallen aus den Achsen der L-Züge, die sich eine Viertelmeile von ihren Fenstern entfernt scharf um eine Kurve quälten; ja, sie schwebte sogar als ein böser Geist in deutsch aufgeputzten Lokalen, wo alles darauf berechnet war, mit Holzvertäfelung, neckischen Zinnkrügen, heimatlichen Städtebildern und deutschen Speisebenennungen stimmungsvoll zu wirken.
    Oft schien Europa ihnen zum Greifen nahe, und doch war es nur ein gestohlenes Flittergewand, das man an die Dinge gehängt hatte und das vor einem durch die Nase gesprochenen Laut, vor einem kaltglitzernden Blick, vor dem gehetzten, von Fusel verseuchten Atemstoß eines Trunksüchtigen herabglitt und zur Schimäre wurde. Das nackte Amerika, die kalte, wuchtige und erbarmungslose Maschine, sprang enthüllt hervor. Es wurde nichts aus der Anheimelung.
    Sie fühlten sich hilflos im Bereich der großen Fangarme, die täglich Millionen ausgeleerter, nach Geld fiebernder Menschen an sich rafften und täglich wieder in ihre dürftigen, phantasielosen Behausungen zurückpreßten. Stets konnten sie das Pochen des Herzens fühlen, das in diesem Moloch arbeitete, das Geräusch einer großen Pumpe, die Kontrakte, ephemere Schwindelunternehmungen, Grundstücksspekulationen, Kriegsbestellungen in sich hineinsog und sie als einen Strom von Geld, eine trübe Fontäne fragwürdig
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