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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Autoren: Rafik Schami
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tröstete sie, dass ihr Mann sie besuchen dürfe, so oft er wolle.«
    Nun war mein Plan perfekt.
    Zu Hause angekommen, machte meine Mutter Augen, als ich ihr vorschlug, meinen schweigsamen ernsthaften Vater auf dem Flohmarkt zu verkaufen und dafür den alten preiswerten Großvater und noch dazu ein Radio zu erstehen.
    »Aber ich liebe deinen Vater«, sagte sie, wie ich erwartet hatte und wie alle Welt wusste.
    »Macht nichts. Er kann dich so oft besuchen, wie er will«, beruhigte ich sie.
    »Nein, nein«, sagte die Mutter, »den verkaufe ich nicht, und deinen Großvater bekommen wir gratis.«
    Merkwürdigerweise kaufte mein Vater eine Woche später ein Radio für meine Mutter. Wahrscheinlich aus Dankbarkeit. Das waren damals sehr teure Geräte, die wie ein Möbelstück aussahen. Neben dem Arzt Michel waren wir die einzigen in der Gasse, die so ein Prachtstück besaßen. Und so kamen alle Nachbarn zu uns, um Kaffee zu trinken und Lieder, Nachrichten und Geschichten zu hören.
    Manchmal jammerte mein Vater, dass das Radio mehr Kaffee verbrauche als Strom. Dann sah ich zu meiner Mutter und flüsterte nur: »Flohmarkt«, und sie lachte verschwörerisch.

MIT PAPIERSCHWALBEN NACH TIMBUKTU
     
    Großvater spielte nicht nur Theater. Er spielte mit allem, was in seine Hände geriet. Am liebsten aber bastelte er Papierdrachen und faltete Papierschwalben. Er hatte Hände, die das Papier auch ohne Lineal und Schere messerscharf falten und schneiden konnten.
    Wann immer ich als Kind krank war, setzte er sich zu mir und faltete mir Schwalben, und wir schickten sie gemeinsam aus dem Fenster im ersten Stock auf Reisen. Seine Schwalben schwebten lange und elegant in der Luft. Sie zogen weite Schleifen, bevor sie sanft landeten. Nur selten stürzten sie direkt in den Innenhof. Und dort, wo sie landeten, waren exotische Orte, von denen ich zum ersten Mal hörte.
    Die Küche der Nachbarin Samira taufte mein Großvater auf den Namen Timbuktu, die Treppe vom Erdgeschoss zu uns herauf hieß Helsinki. Die Terrasse meinem Fenster gegenüber Sibirien, unsere Küche daneben Madrid, der Korridor, der im Erdgeschoss Innenhof mit Haustür verband, war der Gotthardtunnel. Unser Bad nannte er Honolulu und das Schlafzimmer meiner Eltern Bombay.
    Niemand störte sich an unseren Schwalben, denn wenn eines der Nachbarkinder eine davon fing, schenkte sie ihm der Großvater mit den Worten: »Sie wollte seit Stunden zu dir.« Und das zu meinem Ärger, denn manch einem Nachbarskind gönnte ich nicht einmal einen Papierschnipsel, geschweige denn eine herrliche Schwalbe. Aber Großvater war nicht gewillt, in solchen Fragen auf mich zu hören.
    Wie gesagt, niemand hat sich über eine Schwalbe geärgert, die in Timbuktu, Helsinki oder Bombay landete, aber mit der Zeit ärgerte sich mein Vater über unsere Gespräche beim Essen. »Salim kommt gerade aus dem Gotthardtunnel und geht nach Timbuktu«, sagte Großvater, wenn der alte Witwer Salim vom Einkaufen zu Samira in die Küche kam. Er kaufte gerne für die alte Nachbarin ein, dafür kochte sie seit dem Tod seiner Frau für ihn. Man sah am roten Gesicht meines Vaters, dass der Ärger, den er mit seinem Essen schlucken musste, ziemlich groß war. Und als ich kurz darauf meine Schwester, die gerade etwas aus der Küche holen wollte, unklugerweise aufforderte: »Bring mir bitte Salz aus Madrid mit«, war es um die Geduld meines Vaters geschehen …

MURMELN MEINER KINDHEIT
     
»Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist,und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«
    Friedrich Schiller
     
»Wer älter wird, der wird nicht aufhören zu spielen. Aber wer aufhört zu spielen, der wird älter.«
    George Bernard Shaw
     
    »Murmeln« bedeutet, leise und undeutlich vor sich hin zu sprechen, und zugleich steht das Wort für die kleinen aus Marmor, Stein, Ton, Glas oder anderen Materialien hergestellten Kugeln, mit denen Kinder weltweit spielen. Man nennt sie auch Schusser, Marmeln, Marbeln, Batzen, Dotzer, Klicker und Kuller – über hundert verschiedene Bezeichnungen lassen sich zusammentragen. Das Wort Murmel selbst stammt von Marmor, aus dem Murmeln früher häufig hergestellt wurden.
    Die leise Stimme meiner Kindheit, die mir flüsternd vergangene Zeiten und verlorene Paradiese zurückbringt, verbindet sich unzertrennlich mit dem Murmelspiel. Merkwürdigerweise meldet sich die Erinnerung nicht in Farben und Bildern, obwohl die alte Stadt Damaskus an beidem reich ist, sondern als
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