Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
verbringen, ist nun einmal erbaulicher, als Parolen skandierend den Ring entlangzumarschieren. Nur die armen Parteifunktionäre müssen in Wien bleiben, statt in ihren Datschen und Chalets nach dem Rechten zu sehen. Und auch der Lemming und Klara: Sie müssen in der Wohnung des Lemming nach dem Rechten sehen, statt in Klaras Ottakringer Häuschen zu bleiben.
    «Scheiße   … Schon wieder   …» Klara hält abermals an. Sie schließt die Augen und beugt sich vor. «Ich bin mir   … nicht sicher, Poldi, aber   … Ich glaub fast, es geht los.»
    «Es   … Es geht   … Was?» Der Lemming erstarrt. Für einen Moment glotzt er Klara verständnislos an, dann aber durchzuckt ihn der Blitz der Erkenntnis. «Mein Gott, wir müssen   … Wir müssen sofort in die Klinik!»
    «Nicht werd mir gleich panisch», stößt Klara mit gepresster Stimme hervor. «Wir haben doch Zeit.» Sie atmet ein paarmalkräftig durch und richtet sich auf. «Die täten sich schön bedanken im Krankenhaus, wenn ich ihnen bis morgen den Kreißsaal blockier.»
    Eröffnungsphase, natürlich, rekapituliert der Lemming. Bis Muttermund und Zervix zur Genüge ausgeweitet sind, dauert es bei erstgebärenden Frauen im Durchschnitt zehn Stunden. Zunächst macht sich der Fötus reisefertig. Er prüft die Lage der Glieder und kontrolliert den Sitz der Nabelschnur. Er rückt den Kopf in Position und legt noch ein Nickerchen ein, bevor er sich gemächlich zur Abschussrampe begibt. Erst, wenn er im Cockpit Platz genommen, sich in den Schalensitz geschmiegt und angeschnallt hat, kann der Countdown – die sogenannte Austreibungsphase – beginnen.
    Andererseits: Was zählen schon statistische Mittelwerte? Fühlt man sich durchschnittlich wohl, wenn man oben verbrennt und unten erfriert?
    «Ja aber   … Was willst du denn sonst tun?»
    «Gar nix, mein Lieber. Wir gehen jetzt in aller Ruhe deine Post holen, wie geplant. Und dann schauen wir weiter.» Knapp zweihundert Meter liegen noch zwischen ihnen und der Servitengasse, in der das Wohnhaus des Lemming steht. Zweihundert Meter, für die sie eine gute Stunde brauchen werden.
     
    «Ist dir klar, was das bedeutet?» Der Lemming reißt die Augen auf und starrt auf die Uhr seines Handys, während sich Klara keuchend gegen ein Straßenschild lehnt. «Drei Minuten, verstehst du? Drei Minuten seit der letzten Wehe! Vergiss die Post! Ich ruf jetzt ein Taxi!»
    «Ja   … Wahrscheinlich hast   … du recht   …»
    Während der Lemming mit fiebrigen Fingern die Nummer in das Telefon tippt, ertönt – ganz leise zunächst, dann immer durchdringender – ein Brummen über den Häusern.
    «Taxifunk, grüß Gott», meldet sich eine barsche weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
    «Ja, grüß Sie auch, ich hätt gern   …», der Lemming hält sich mit der freien Hand das rechte Ohr zu, «ich hätt gern einen Wagen, und zwar möglichst   …», er dreht den Kopf und sieht nach oben, wo gerade ein Hubschrauber über der Dachkante auftaucht. «Möglichst rasch! Verstehen Sie? Können Sie mich   … In die Berggasse! Nein, Berg! Berg wie Tal! Verdammt! Der Trampel hat aufg’legt!»
    Ein kurzer, hilfloser Blick zu Klara, die in gekrümmter Haltung den Pfosten umklammert, dann wieder zum tiefblauen Himmel hinauf: Wie eine hässliche, stählerne Wolke hängt dort der Helikopter und verwandelt die Straße in eine dröhnende Höllenschlucht.
    «Schleich dich!» Mit hektischen Gebärden springt der Lemming hoch, als könne er den Störenfried auf diese Art verscheuchen. «Weg! Verschwind doch! Schleich dich endlich!» Ein eleganter Schlenker, die Maschine dreht ab und gleitet Richtung Rathausplatz. Zitternd vor Wut drückt der Lemming die Wiederwahltaste. Presst den Hörer an sein Ohr und lauscht.
    «Scheiße! Besetzt!»
    Jetzt ist er es, der durchatmen muss. Verbindung trennen. Wiederwahl. Freizeichen.
    «Hallo? Taxi? Hören Sie, es ist wirklich dringend! Ich brauche sofort einen Wagen in die   … Wie? Ich kann Sie nicht   … Sie können was? Sie können mich nicht   … Verflucht!»
    Abermals schiebt sich der Hubschrauber über die Häuserzeile. Der Pilot scheint Gefallen am neunten Bezirk gefunden zu haben.
    «Maiaufmarsch!» Klara deutet nach oben; mit all ihrer Stimmkraft versucht sie, den Radau zu übertönen. Der Lemming kann trotzdem nur einzelne Wortfetzen hören. «Polizei   … Überwachungshub   … Ministerium   …» Zwar begreifteine ferne, verborgene Kammer seines Gehirns, was Klara ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher