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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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    Zuerst möchte ich Ihnen mitteilen, dass
ich nicht die Erfahrung gemacht habe, dass an der Schwelle des Todes das ganze
Leben im Zeitraffer noch einmal vor einem abrollt. Kein lockendes weißes Licht
am Ende eines Tunnels, keine warme, diffuse Ahnung, dass meine verstorbenen
Lieben drüben auf mich warteten. Ich hörte in meinem Inneren nur ein empörtes
Stimmchen, das protestierte: »He, nicht doch. Das ist doch wohl nicht ernst
gemeint. Soll das wirklich schon alles gewesen sein?« Am meisten bereute ich,
dass ich am Vorabend nicht wie geplant meine Kommode aufgeräumt hatte. Der
Gedanke, dass die Menschen, die dein vorzeitiges Dahinscheiden betrauern,
gleichzeitig das unauslöschliche Bild deiner zusammengeknüllten Unterhosen
mitnehmen, ist ziemlich unangenehm. Man könnte natürlich die Gültigkeit dieser
Beobachtung in Frage stellen, da ich ja damals offensichtlich nicht gestorben
bin. Aber dennoch — sehen wir den Dingen ins Auge: Das Leben ist ziemlich
trivial, und ich vermute stark, dass uns das Sterben auch keinen großen Zuwachs
an Weisheit beschert.
    Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich bin
lizenzierte Privatdetektivin in Santa Teresa, einem Ort fünfundneunzig Meilen
nördlich von Los Angeles. Die letzten sieben Jahre hatte ich ein eigenes
kleines Büro gleich neben der Hauptstelle der California
Fidelity-Versicherungsgesellschaft. Mein Abkommen mit der CF gestand mir die
Nutzung einer hübschen Eck-Suite zu. Dafür verpflichtete ich mich, auf einer
ungeregelten »Nach-Bedarf«-Basis in suspekten Brand- und Todesfällen für sie zu
ermitteln. Anfang November hatte dieses Arrangement ein jähes Ende gefunden,
nachdem sie einen superdynamischen Leis-tungsmaximierungs-Experten aus der
Filiale in Palm Springs in die Hauptstelle versetzt hatten.
    Ich hatte nicht gedacht, dass ich von
dieser Veränderung im Firmenmanagement in irgendeiner Weise betroffen sein
würde, da ich ja keine reguläre Angestellte, sondern nur freie Mitarbeiterin
war. Doch schon bei meiner ersten (und einzigen) Begegnung mit diesem Herrn
entzündete sich eine spontane wechselseitige Antipathie. In der Viertelstunde,
die unsere gesamte Beziehung ausmachte, zeigte ich mich unhöflich,
widerspenstig und unkooperativ. Und ehe ich mich’s versah, fand ich mich mit
diversen Pappkartons voller Akten auf der Straße wieder. Ich will gar nicht
groß davon reden, dass meine Zusammenarbeit mit der CF in der Zerschlagung eines
Betrügerringes gipfelte, der durch fingierte Autounfälle Millionensummen an
Versicherungsgeldern kassiert hatte. Alles, was mir das eintrug, war ein
verstohlener Händedruck von Mac Voorhies (dem Vizepräsidenten der Gesellschaft
und einem bekennenden Hasenfuß), der mir versicherte, er finde diesen Menschen
genauso grässlich wie ich. Diese moralische Unterstützung tat mir zwar wohl,
löste aber nicht mein Problem. Ich brauchte Arbeit. Ich brauchte ein Büro, wo
ich sie tun konnte. Davon abgesehen, dass ich zu Hause gar nicht den Platz
hatte, wäre das auch unprofessionell gewesen. Unter meiner Kundschaft sind
manchmal ziemlich unangenehme Zeitgenossen, und ich wollte nicht, dass diese
Typen mitkriegten, wo ich wohnte. Ich hatte schon genug am Hals. Nach den letzten
deftigen Steuererhöhungen hatte sich mein Hauswirt gezwungen gesehen, meine
Miete zu verdoppeln. Das traf ihn noch mehr als mich, aber nach Auskunft seines
Steuerberaters blieb ihm nichts anderes übrig. Die Miete war immer noch ganz im
Rahmen, und ich konnte mich nicht beklagen, aber die Erhöhung hätte zu keinem
ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Meine ganzen Ersparnisse steckten in
meinem »neuen« Auto, einem hellblauen VW, Baujahr 74, mit nur einer klitzekleinen
Delle im hinteren linken Kotflügel. Meine Lebenshaltungskosten waren
bescheiden, aber ich hatte trotzdem am Monatsende keinen Cent übrig.
    Es gibt ja die Theorie, dass niemand
gefeuert wird, der nicht geheime Freiheitssehnsüchte hat, aber das ist wohl
eher so eine Sentenz von Leuten, die gerade an die Luft gesetzt worden sind.
Gefeuert zu werden ist die Hölle, vom Demoralisierungseffekt her durchaus auf
einer Stufe mit dem Verlassenwerden in der Liebe. Das Selbstwertgefühl schnurrt
zusammen, und das Ego macht Pffft wie ein zerstochener Reifen. In den Wochen
nach meinem Rausschmiss hatte ich all die Reaktionsstadien kennen gelernt, die
man nach der Eröffnung einer hoffnungslosen Diagnose durchmacht: Wut,
Verleugnung, Feilschen, Suff, unflätiges Reden, Schnupfenanfälle, rüde
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