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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden
Autoren: Wolfgang Schüler
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S CHÜSSE AUF DEM H AUPTBAHNHOF
    Aus den Aufzeichnungen von Dr. Watson
    20.10.1913, Leipzig
    Plötzlich vernahm ich ein bedrohliches Geräusch. Ich kannte es nur zu gut, hatte es aber schon lange nicht mehr gehört. Deshalb konnte ich es nicht gleich zuordnen. Es klang wie das giftige Summen einer aggressiven Biene. Sie war mit hohem Tempo herangerast gekommen und nur einen knappen Inch entfernt an meinem linken Ohr vorbeigesaust. Ich hatte den Luftzug gespürt. Wenige Yards hinter mir zerbarst eine Scheibe. Die Scherben fielen klirrend zu Boden. Irgendwo in meinem Inneren tickte eine Uhr. Achtzehn, neunzehn, zwanzig. Erst nach diesen langen Schrecksekunden begriff ich, dass zwischen dem Surren und dem Glasbruch ein Zusammenhang bestand. Also konnte keinesfalls ein mörderisches Insekt dafür verantwortlich gewesen sein. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Es gab nur eine einzige logische Erklärung: Irgendjemand hatte soeben eine Waffe in unsere Richtung abgefeuert, und zwar mitten in der belebten Halle des Leipziger Hauptbahnhofs! Vor Empörung stockte mir der Atem. Mit Schießeisen spielt man nicht, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit! Wie schnell mochte da ein Unglück geschehen. Um ein Haar hätte es mich erwischen können.
    Holmes hatte glücklicherweise noch seine fünf Sinne beisammen. Er packte mich am Arm und riss mich unsanft zur Seite. »Nichts wie weg hier!«, schrie er mich an. »Dort der Kiosk wird uns Deckung geben.«
    Seine Aufregung steckte mich an. Ich vergaß, mich nach dem Grund dafür zu erkundigen. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, wir beide hätten das Ziel des Schützen sein können.
    So schnell es meine alten Knochen zuließen, rannte ich hinter meinem Freund her auf den grünen, gusseisernen Pavillon zu, der gerade eben eines seiner rhombenförmigen Fenster eingebüßt hatte. Ich tat es Holmes gleich und lief im stetigen Zick-Zack-Kurs – wie damals im staubigen, afghanischen Hochland, nur eben langsamer und weitaus weniger elastisch. Holmes würde schon wissen, was er tat. Für eine vernünftige Erklärung war später immer noch Zeit genug.
    Eine Dame im besten Alter, die neben dem Kiosk wartete und wohl nach einem einlaufenden Fernexpress Ausschau hielt, musterte mich verblüfft ob meiner Kapriolen. Es handelte sich um eine höchst elegante Erscheinung. Sie trug einen teuren, dunklen Mantel nebst einem passenden kappenähnlichen Filzhut. Obwohl ich sie nur für die Dauer eines Wimpernschlags bewusst wahrnehmen konnte, prägten sich mir einige völlig unwichtige Details ein: ein perlmuttgefasstes Lorgnon, das an einer silbernen Kette um ihren Hals hing, eine kostbare Hutnadel in der Form eines Pfauenauges, ein glänzender Pelzkragen.
    Im nächsten Moment musste ich scharf nach rechts ausweichen, sonst wäre ich frontal gegen die Lady mitsamt ihrem Lorgnon geprallt. Sie nahm offensichtlich Anstoß an meinem unwürdigen Gehopse, denn sie streckte in einer theatralischen Geste beide Arme hoch in die Luft, so als ob sie in nächsterSekunde für mein Seelenheil beten wollte. Das hielt ich dann doch für leicht übertrieben. Verdutzt blieb ich stehen. Welches Schauspiel würde sie mir wohl präsentieren? Doch nun überzog das Weibsbild maßlos. Vielleicht war es eine Aktrice, die für ein neues Stück probte: Sie begann wie ein Rohr im Wind zu schwanken und sank langsam zu Boden. In meinem Leben hatte ich schon viel erlebt, aber noch nie eine Frau gesehen, die vor mir in die Knie gegangen wäre – und schon gar nicht auf einem ausländischen Bahnhof
coram publico
. Reichlich konsterniert blickte ich auf sie hinab. Da sah ich es voller Grausen: Eine große, rote Blume erblühte mitten auf ihrer Stirn, und ein Blutfaden rann ihr über das aschfahl werdende Antlitz. Ihre Augen brachen, das Lebenslicht erlosch.
    Für mich als Kriegsveteranen und vormals praktizierenden Arzt war der Übergang vom Sein zum Nichtsein durchaus ein gewohnter Anblick. In Afghanistan beispielsweise, speziell in der Schlacht von Maiwand [ 1 ] , bei der ich selbst schwer an der Schulter verwundet wurde und nur dank der Hilfe meines treuen Lazarettburschen Murray dem Sensenmann von der Schippe springen konnte, waren um mich herum meine Kameraden im feindlichen Feuer wie die Garben bei der Mahd im Getreidefeld gefallen. Und während der großen Londoner Grippeepidemie im Jahr 1891 starben mir im St. Bartholomew Hospital die Patienten unter den Händen weg wie die Fliegen, und zwar trotz aller aufopfernden
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