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Frostblüte (German Edition)

Frostblüte (German Edition)

Titel: Frostblüte (German Edition)
Autoren: Zoë Marriott
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Prolog
    Als der Wolf das erste Mal von mir Besitz ergriff, war ich acht.
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich für normal gehalten. Auch wenn mich die anderen Kinder manchmal verspotteten, mich »Vaterlose«, »Namenlose« schimpften, konnten mir ihre Worte nichts anhaben, weil sie nicht zutrafen. Ich hatte einen Vater. Er war der große Jäger, den die Fangzähne des Dämonenwolfes vor meiner Geburt besiegt hatten. Jeder kannte seinen Namen. Ich war stolz darauf, Garin Aeskaars Tochter zu sein.
    Damals wusste ich nicht – niemand wusste es –, dass er mir, als er starb, viel mehr als seinen Namen und seinen Mythos hinterlassen hatte.
    An jenem Morgen zerbrach ich ein Tongefäß. Als ich meiner Mutter die irdene Schale reichen wollte, strahlte die Hitze durch den Stoff und verbrannte mir die Hand. Ich ließ die Schale fallen, die stark riechende Kräutertinktur ergoss sich über den festgestampften Lehmboden. Rote Scherben flogen in alle Richtungen.
    Die Hand meiner Mutter schnellte vor, dann fühlte sich meine rechte Gesichtshälfte taub an.
    »Nutzloses, ungeschicktes Mädchen«, sagte sie, ihre Augen wurden zu eisigen, schwarzen Schlitzen. »Du bist genau wie dein Vater … Nein, versuch nicht, es aufzuwischen! Du machst es nur noch schlimmer. Raus mit dir. Verschwinde! Geh mir aus den Augen!«
    Ich rannte davon, mein Magen rumorte mit einer Mischung aus Scham und Trotz. Es tat mir leid, dass meine Ungeschicklichkeit die Arbeit eines Morgens zunichtegemacht und Durcheinander angerichtet hatte. Doch als die Taubheit nachließ und meine ganze rechte Gesichtshälfte schmerzte und meine Hand brannte, verwandelten sich meine Schuldgefühle in Wut. Es war nicht fair, schließlich hatte ich es nicht mit Absicht getan. Und es war sinnlos, Ma um Brandsalbe oder eine Kompresse für mein Gesicht zu bitten. Solche Dinge vergeudete sie nie an uns. Sie verkaufte sie und sammelte das Geld im hohlen Bein des wackeligen Schemels unter dem Fenster.
    Obwohl das Sonnenlicht grell genug war, um mir noch mehr Tränen in die Augen zu treiben, war die Luft kalt. Ich rieb über die Gänsehaut auf meinen nackten Armen, während meine Schritte auf dem gefrorenen Boden knirschten. Der Frühlingsregen am Tag zuvor hatte die Wege durchs Dorf in aufgewühlten Matsch verwandelt. Doch die Nacht hatte Frost gebracht und den schmatzenden, stinkenden Dreck zu harten Erdkrusten erstarren lassen, die sich in die dünnen Sohlen meiner Stiefel drückten, als ich zwischen den niedrigen, bienenkorbförmigen Häusern hindurchlief.
    Ich eilte am Haus des Ältesten Gallen vorbei, dessen Frau auf dem Vorhof die Ziege ausschimpfte, und verlangsamte meinen Schritt, als ich mich der Schmiede näherte. Heiße, nach Eisen stinkende Luft quoll heraus, von Zeit zu Zeit flogen orangefarbene Funken. Das rhythmische Geräusch von Metall auf Metall klang wie Musik.
    An einem normalen Morgen wäre ich dortgeblieben, hätte die Wärme auf meiner Haut genossen und Eilik, dem Schmied, dabei zugesehen, wie er das glühende Eisen auf seinem Amboss zu nützlichen Formen schlug. Doch ich konnte schon spüren, wie mein Gesicht anschwoll. Er würde es bemerken.
    Eilik würde keine Fragen stellen. Das tat er niemals. Doch da wäre dieser Blick in seinen sanften Augen, dieser Blick, unter dem ich mich stets wand. Also machte ich einen Bogen um den Hof des Schmieds, wo der kaputte Karren des Ältesten Rangar auf ein neues Rad wartete, und ging in den Wald.
    Dort war es ruhig. Es war eine Art kameradschaftliche Stille. Vögel zwitscherten, Büsche raschelten, der Wind spielte in den Baumwipfeln. Dass keiner von ihnen mir Beachtung schenkte, gefiel mir. Ich stopfte den Saum meines Rockes in den Gürtel und lief ein Stück, das verfaulte gelbe Wintergras knackte unter meinen Schritten, meine Hände strichen über die raue rote und graue Rinde der hohen Bäume.
    Ich kam zu einer kleinen Lichtung, auf der die anderen Dorfkinder und ich im Sommer manchmal spielten, und setzte mich auf einen umgestürzten Baumstamm. Vorsichtig betastete ich mein Gesicht. Die Haut war heiß und geschwollen und fühlte sich empfindlich an. Mit Ausnahme einer Stelle. Ich fuhr über die rauen Erhebungen der Narbe. Diese Stelle war immer kalt. Selbst wenn ich einen blauen Fleck bekam, würde sie sich wie ein Muster aus weißen Eiskristallen von meiner Wange abheben. Gleichgültig, wie oft mich Ma schlug, die Narbe wurde niemals rot, niemals heiß. Verschwand nie.
    Sie war ein Teil von mir, solange ich mich
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