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Die sieben Finger des Todes

Die sieben Finger des Todes

Titel: Die sieben Finger des Todes
Autoren: Bram Stoker
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1. KAPITEL
     
    EIN NÄCHTLICHER RUF
     
    Alles erschien mir so wirklich, daß es mir unvorstellbar schien, es zum zweiten Mal zu erleben. Und doch kam jede einzelne Episode nicht wie ein neuer Schritt im logischen Ablauf der Ereignisse auf mich zu, sondern als etwas, das ich bereits erwartete. Auf diese Weise kann einem das Gedächtnis Streiche spielen, gute oder üble, vergnügliche oder schmerzhafte, glück- oder unglückbringende. So kommt es auch, daß uns das Leben so bittersüß dünkt und daß alles Geschehene zur Ewigkeit wird.
    Wieder verlangsamte der leichte, von blitzend-tropfenden Rudern vorangetriebene Nachen die Fahrt durch träges Gewässer, gleitet aus der grellen Julisonne hinein in den kühlen Schatten ausladenden, tiefhängenden Weidengeästes – ich, im schwankenden Kahn stehend, sie sitzend und sich mit geschickt zupackenden Fingern vor verirrten Zweigen und zurückschnellenden Ästen schützend. Und wieder wird das Wasser unter dem Baldachin aus durchscheinendem Grün goldbraun, das grasbewachsene Ufer smaragden. Wieder sitzen wir da im kühlen Schatten, umgeben von den Myriaden Geräuschen der Natur, die zu einem schläfrigen Gesumm verschmelzen, dessen satte Umhüllung die große Welt mit ihren beängstigenden Kümmernissen und den noch beängstigenderen Freuden gänzlich vergessen läßt. Wieder streift das junge Mädchen in dieser glückhaften Einsamkeit die Regeln ihrer steifen, einengenden Erziehung ab und spricht zu mir, natürlich und ein wenig verträumt von der Einsamkeit ihres neuen Lebens. Der traurige Unterton gibt mir zu verstehen, daß sie sich in dem Riesenhaus einsam und allein fühlt, daß Vertrauen und Mitgefühl unter den Bewohnern nicht gedeihen können, und daß ihr sogar das Antlitz des Vaters so entrückt scheint wie ihr früheres Leben auf dem Lande. Und einmal mehr lege ich dem Mädchen meinen gereiften Verstand und die Erfahrung meiner Mannesjahre zu Füßen, ohne daß eine bestimmte Absicht dahinterstand. Das individuelle »Ich« hatte in dieser Sache nichts zu sagen und gehorchte nur drängenden Befehlen. Und wieder vervielfachten sich die flüchtigen Sekunden unendlich. Denn es gehört zu den Mysterien der Träume, daß sich Bestehendes vermengt und sich erneuert, verändert und doch gleich bleibt – wie die Seele des Musikers in der Fuge. Und so versank die Erinnerung immer wieder im Schlaf.
    Eine vollkommene Ruhe gibt es nicht, so scheint es jedenfalls. Sogar im Garten Eden hebt die Schlange ihr Haupt unter dem schweren Geäst des Baumes der Erkenntnis. Die Stille der traumlosen Nacht stört das Dröhnen der Lawine, das Rauschen plötzlich hereinbrechender Fluten, das Bimmeln der Zugglocke durch ein schlafendes Städtchen in Amerika; das Eintauchen von Paddeln aus der Ferne… was immer es sein mag, es stört den Zauber meines Eden.
    Der Baldachin aus Laub über uns, gestirnt mit diamantenen Lichtspitzen, scheint unter dem Ruderschlag zu erbeben, und die Glocke erklingt, als wolle sie nie enden…
    Ganz plötzlich werden die Tore des Schlafes weit aufgerissen, und meine erwachenden Ohren nehmen die Ursache der Störung auf. Einen sehr prosaischen Grund – jemand klopfte und schellte an einer Haustür.
    In meiner an der Jermyn Street gelegenen Wohnung war ich an mancherlei Geräusche von draußen gewöhnt. Für gewöhnlich kümmerte mich das Tun und Lassen meiner Nachbarn, und sei es auch noch so laut, im Schlafen oder Wachen herzlich wenig. Doch dieses Geräusch war zu langdauernd, zu beharrlich, zu drängend, um überhört zu werden. Hinter diesem nicht enden wollenden Geräusch stand etwas Aktives und Verstandesmäßiges. Und dieser Verstand wurde von einem Bedürfnis getrieben oder stand unter Druck.
    Meine Selbstsucht hielt sich in Grenzen, daher trieb mich der Gedanke, daß jemand in Not wäre, schnell aus dem Bett. Instinktiv warf ich einen Blick auf die Uhr. Punkt drei Uhr. Um den grünen Fensterladen, der mein Zimmer verdunkelte, zeichnete sich ein matter Graustreifen ab. Es war nun klar, daß an unserer Haustür gepocht und geschellt wurde. Zudem war klar, daß niemand wach war, um die Tür zu öffnen. Ich schlüpfte hastig in Morgenrock und Pantoffeln und ging an die Tür. Als ich öffnete, sah ich vor mir einen Jungen in schmucker Bedientenuniform, der mit einer Hand ununterbrochen die elektrische Klingel drückte, während er mit der anderen lautstark den Türklopfer betätigte. Kaum hatte er mich gesehen, verstummte der Lärm. Eine Hand fuhr
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