Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
DER VORSCHLAG
    Mein Bruder benutzte in jedem zweiten Satz das Wort Scheißzeug. Er konnte es nicht lassen. Mit den Füßen trat er nach Geesjes Fuß.
    Sie hatte keine Lust zu reagieren. Erstens, weil sie schlau war und sich ein Buch mitgebracht hatte, ein dickes Buch, für das sie lange brauchen würde. Zweitens, weil man sie nicht so leicht auf die Palme brachte, auch nicht, wenn man immer fester zutrat, so wie Bossie.
    Ich reagierte an ihrer Stelle.
    »Bossie, hör auf.«
    Er hörte auf und seufzte tief und sagte noch einmal das Wort Scheißzeug. Scheißzeug, Scheißzeug. Er tat, als sei dieses Wort sein Eigentum. Dabei konnte man hören, dass es ihm nicht gehörte und nie gehören würde. Es stammte aus der Zeitung. Es hatte in einem Artikel über einen Iren gestanden, der von einem Tag auf den anderen anfing, schlimme Wörter zu benutzen, und gar nicht mehr damit aufhören konnte.
    »Und wenn wir diesen Platz Unser Clubhaus nennen würden?«, sagte Bossie plötzlich.
    Geesje schaute auf. »Unser Clubhaus?«, sagte sie. Sie rollte die Augen. »Diesen Platz? Es ist das erste Clubhaus ohne Dach, das ich von innen sehe.«
    »In Italien gibt es Gebäude ohne Dach«, sagte Bossie.
    Ich erschrak, weil er mit Italien anfing. Mama war in Italien.
    »Die Gebäude dort haben Wände«, sagte Geesje.
    Bossie stellte sich taub.
    Ich konnte das nicht. Ich hörte immer alles. Ich behielt auch viel.
    Bossie wiederholte seinen Vorschlag: dass wir zu dritt ein Club waren und uns unser Clubhaus um uns herum denken sollten.
    Geesje und ich schauten uns um. Wir versuchten uns ein ganzes Haus vorzustellen. Das war gar nicht so leicht. Es gab keine Wände, an die wir Poster hängen konnten, es gab keine Dartscheibe, da stand kein Tisch, wir hatten keine Stühle, keinen Kühlschrank mit Getränken, wir hatten keine Clubkatze, kein eigenes Wappen, keinen Namen, kein Radio, wir hatten kein eigenes Lied, das wir singen konnten.
    Unser Clubhaus war eine der Mauern der ALTEISEN KG .
    Auf der einen Seite befand sich das Flachdach der Lagerhalle. In diesem Lager arbeiteten Petra und Priit. Im Hof lagen ordentlich sortiert alte Eisenteile.
    Auf der anderen Seite lag die Milchstraße. Wenn wir uns vorbeugten und hinunterschauten, sahen wir keine Abenteuer auf uns zukommen, wir sahen nur magere Sträucher an der Mauer neben dem grauen Bürgersteig.
    »Gut«, sagte ich.
    »Prima«, sagte Geesje und steckte die Nase wieder in ihr Buch.
    »He«, sagte Bossie und hielt sich die Brust. »Ist es meine Schuld, dass wir uns langweilen?«
    »Du bist älter«, sagte ich. »Du triffst die Entscheidungen.«
    »Brüderchen«, sagte Bossie.
    »Bruder«, sagte ich.
    Ich bemerkte, dass Geesje in unsere Richtung schaute. Sie verzog keine Miene. Sie hätte auch lachen können. Ihre Augen gingen von Bossie zu mir und zurück, und zu meiner Überraschung landeten sie nach einer Weile wieder in ihrem Buch. Sie gingen nicht mehr in unsere Richtung.
    Bossies Rücken sackte zusammen.
    »He«, sagte er und breitete die Arme aus. »Ist das hier der Hof des Königs, und ich bin sein Narr?«
    Ich schaute auf und Geesje auch. Wir runzelten beide die Stirn. Wir dachten beide an die brennende Sonne. Vielleicht trank Bossie nicht genug Wasser, vielleicht sagte er deshalb so seltsame Sachen.
    »Muss ich euch beschäftigen?«, sagte er.
    »Du musst gar nichts«, sagte ich. »Aber wenn du ein Clubhaus … na ja, baust, dann musst du auch dafür sorgen, dass es hier etwas zu erleben gibt.«
    »Pah«, machte Geesje, denn ihr genügte ihr Buch.
    »Von wegen pah«, sagte ich zu Geesje. »Gehörst du zu uns oder gehörst du nicht zu uns?«
    Geesje blinzelte. Sie suchte nach einer passenden Antwort. Seit ein paar Wochen blieb sie nicht mehr jeden Tag bei uns, weil sie ab und zu ihre Tante besuchte. Die Tante würde vielleicht sterben.
    Sie klappte langsam ihr Buch zu und sagte: »Natürlich gehöre ich zu euch.«
    »Also«, sagte ich und schaute zu Bossie.
    »Was also?«, sagte Bossie.
    Ich sagte: »Wenn das unser Clubhaus ist, müssen wir uns ab jetzt auch wie ein Club verhalten.«
    Geesje zog die Augenbrauen hoch und klappte ihr Buch fast wieder auf.
    »Wie kann ich mich wie ein Club verhalten?«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf ihre Brust. »Ein Club? Ich bin kein Club. Ich bin allein.«

JECKYLL
    Bossie beugte sich vor und machte eine Kinnbewegung in Richtung Nancy Sinatras Hund, der unter uns vorbeilief.
    »He, Jeckyll Dackel!«, rief er.
    Wir sahen das Vieh jeden Morgen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher